Johann Friedrich Reichardt
LEBEN
des beriihmten Tonkiinstlers
HEINRICH WILHELM GULDEN
nachher genannt
Guglielmo Enrico Fiorino
1967
INSEL-VERLAG- LEIPZIG
HeinrichWUhelm Gulden, dessen Leben ich hier beschreibe,
war der Sohn ernes gemeinen Musikanten in Thorn, der die
Kunst zum niedrigsten, verachtlichsten Gewerbe herabwiir-
digte, dem Bierschenker durcli den mutigen Strich seines Bo-
gens und den hellen Klang seiner Geige Gaste verschaffte und
den Gasten Mut und Lust zum Soffe.
Dieser Mann, dem es nicht an natiirlichen Fahigkeiten,
auch eben nicht an Giite des Herzens, wiewohl ganzlich an
Erziehung und Ausbildung fehlte, zeugte im Jahre 1736 am
l.Marz einen Sohn und hieB ihn Heinrich Wilhelm. Sein er-
ster Wunsch, da er den Knaben sah, war dieser, daB ihm Gott
gesunde Finger und Lust und Liebe zur Tonkunst schenken
mochte. Der Wunsch ward erfiillt, der Knabe hatte gesunde
Finger, ein gutes Ohr und im dritten Jahre schon Lust und
Liebe zur Tonkunst- Wie konnte das anders sein? Das erste
Schreien des Knaben ward durch Gesang und durch den Ton
der Geige in Lacheln verwandelt; das erste und einzige SpieL
zeug des Knaben war eine Pf eif e und eine kleine Geige.
Die Beschaftigung des Knaben mit seiner Geige und Pf eife
wurde fur uberwiegenden Hang, fur Bestimmung von Oben
zur Tonkunst erklart. Es ward also bestimmt, er sollt' ein
Tonklinstler werden, und zwar — nach dem gemeinen Hange
der Eltern, aus ihren Kindern etwas mehr zu machen, als sie
selbst sind, und sich dadurch noch in ihren Kindern zu er-
heben — ein Virtuose.
Im vierten Jahre fing der Vater an, seinen Sohn in der
Geige zu unterrichten, und erstaunte nicht wenig, daB der
Knabe das, was er ihm vormachte, oft eher nachmachte, ehe
er es ihm noch erklart hatte. Denn der gute Mann wuBte
nicht, daB ein Kind nur durch sinnlichen Eindruck und nicht
durch Beweise und Erklarungen etwas faBt; daB ein Kind
das, was es sieht und hort, weit eher behalt als das, was man
ihm sagt; am wenigsten, wenn man's ihm so sagt, wie die
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mehresten Eltern mit den Kindern reden und wie sie nur re-
den konnen.
Es liegt auch hierin der Grund, daB einige Lehrmeister so
vorziiglich geschickt im Unterricliten der Kinder sind. Sie ha -
ben die Gabe, den Kindern alles sinnlich darzustellen, dem
Aug 9 und Ohr durch Bilder, durch Beispiele alles so deutlich,
30 begreiflicli zu machen, daB sie gar nicht daran denken diir-
f en, den Verstand des Kindes zu beschaftigen. Ich babe einen
Mann von vieler gesunden Vernunft gekannt, der hatte die
Gewohnheit, wenn er fiir seine kleinen Kinder einen Lehr-
meister suchte, so sah er, wie er den ihm schon empfohlnen
Mann zuerst auf der StraBe antraf , und fragte ihn dann un-
erkannt urn Zurechtweisung nach einer entfernten StraBe.
Konnte dieser ihm, ohne viele Miihe, das so recht deutlich
machen, so war's sein Mann zum Unterricht seiner Kinder.
Es gibt auch Lehrmeister, die durch ihre eigne Unfahig-
keit, durch Mangel an deutlicher Erkenntnis der Sache, die
sie lehren, gute Lehrmeister fiir Kinder sind. Denn sie sind
gezwungen, den Kindern alles sinnlich vorzustellen; gezwun-
gen, allerlei Bilder aiifzusuchen und sie verschiedentlich ne-
beneinanderzustellen. Einen andern Weg kennen sie nicht.
Deutliche Erklarungen und Beweise konnen sie nicht geben,
weil sie selbst die Griinde und Ursachen nicht wissen, w r enig-
stens nicht deutlich erkennen. Dies ist oft die Ursach, warum
mancher w^enig gelehrte Kandidat in den Dingen, die er ge-
faBt und behalten hat, ein besserer Lehrer fiir Kinder ist als
mancher Mann von groBer Gelehrsamkeit und geringer
Kenntnis des Menschen.
In jenem Fall befand sich denn auch der Vater unsers Hein-
rich WLlhelm Gulden. Er hatte nicht die geringste griindliche
Einsicht in die Tonkunst und war also gezwungen, seinem
Sohn alles durch die Augen und Ohren beizubringen. Und
wenn er hernach mit seinen kauderwelschen Erklarungen
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hinterdreinkam, so hatte es der Knabe zu seinem groBten Er-
staunen schon begriff en, ohn' ihm dock ein Wort davon gesagt
zu hob en.
Dieses machte unsern Knaben bald zum Wunder der Stadt.
Der Vater beteuerte einem jeden, sein Sohn hab' alles von sich
selbst, er hab' ihm nicht das geringste gesagt, nicht das ge-
ringste gezeigt.
Es ist wahr, er hatte ungemeine Fahigkeiten, oder be-
stimmter zu reden, er hatte sehr scharf e und feme Sinnen und
vorziiglich ein sehr femes Gehor. Dem Manne, der nicht Ein-
sicht genug hatte, zu erkennen, wie unverniinftig es von El -
tern gehandelt ist, ihr Kind ehe zu etwas Gewisses zu bestim-
men, ehe nicht die hoheren Seelenkrafte sich in ihm entwik-
kelt haben, dem war es wohl zu verzeihen, daB er zu einer
Zeit, da Sinne das ganze Eigentum des Kindes waren, ein
Ge^verbe flir den scharfsten und feinsten Sinn des Kindes
wahlte.
Wie toricht und unverantwortlich handeln aber nicht die
Eltern, die selbst Einsicht genug besitzen oder doch Fahig-
keit und Gelegenheit haben, sich diese Einsicht zu erwerben,
oder wenigstens einen verstandigen Freund oder Obern ha-
ben, der ihnen raten konnte, wenn diese schon in den ersteh
Jahren der Kinder, aus niedrigen, eigenniitzigen, ehrgeizigen
Absichten oder auch wohl, ohne selbst zu wissen, waram, ein
Qewexhe fur sie wahlen, das sie entweder nicht erfiillen oder
das ihre Bestimmung nicht erf iillt.
Mir tut es im Herzen wehe, wenn ich Mnen Menschen sehe,
den die Vorsehung mit den hochsten Gaben des Geistes, mit
groBer Giite des Herzens zu einem v^^ohltatigen Werkzeuge
ihrer Giite ausgeriistet, wie dieser, durch seine Erziehung
miBleitet, sein Leben in eitlen, lappischen Tandeleien oder
wohl gar in niedrigen Beschaftigungen hinschlendert, wohl
gar so verwahrloset ist, daB er auch des zuf alligen Guten, das
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er auBer seinem eigentliclieii Gewerbe noch stiften konnte,
nicht einmal fahig ist !
Und wenn icli dann wieder einen elenden Mensdien sehe,
der weder hohe Gaben des Geistes noeli Giite des Herzens be-
sitzt, den man nur an der aufgerichteten Gestalt fur einen
Menschen erkennt, wenn der fur die Welt ebenso miBleitete
Mensch die Bestimmung jenes zu groBen Taten gebornen und
erstickten Menschen erfiillen soil! —
Nicht umsonst gerat' ich hier bei der Bestimmung unsers
Knaben in Eif er. Man wird in der Folge sehen, wie sehr der
unwissende Vater die wahre Bestimmung seines Kindes ver-
fehlte.
Im secbsten Jahre, da andre Kinder sich im Lesen und
Schreiben uben, konnte unser Knabe alle Polonoisen und Me-
nuetten, auch englische, schwabische, steirische und kosaki-
sche Tanze spielen. Anstatt daB andre Eltern f iir ihre Kinder
Schulgeld bezahlen, brachte dieser sclion oft der Mutter heim-
licb vier Groscben von den acht Groschen mit, die ihm die
lustigen Tanzer im Wirtshause* mit Lobeserbebungen von
tausend Fliichen begleitet, in die rote Geige warfen. Heim-
lich, denn es batte ibn schon mancbmal weinen gemacht, daB
der Vater nicht selten so grausam gegen die arme Mutter
war, sie Hunger leiden zu lassen und oft mit Schlagen zu
miBbandeln. Sie war eine so gute Frau, daB sie oft mit Tra-
nen eine halbe Stunde Ruhe fur den armen Jungen erbat,
wenn er scbon vier, fiinf Stunden unaufhorlich die Geige
hatte spielen miissen, und zuweilen in Tranen und Gebet fur
ihn ganze Nachte durcliw r achte.
Er gab also der guten Mutter von dem verdienten Gelde
stets so viel, als er nur vor seinen Vater verheimlicben konnte,
und unterlieB dieses nie, ob er scbon einigemal derb dafiir
vom Vater war abgepriigelt w r orden. Ward's der Vater aber
gar nicht gewahr, daB die Gaste Geld in seine Geige geworf en
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liatten, so wurde denn auch wohl ein Teil zu Naschereien an-
gewandt. Doch muBte ihn auf dem Wege zum Backer kein
Bettler begegnen, denn er hatte dasBeispiel oft an seiner Mut-
ter gesehn, daB es suB sei, den Notleidenden wohlzutun.
Auch konnte der Vater seinen Sohn in der Musikanten-
bande sclion fiir eine ganze Person rechnen; und daher sah er
ihn bereits als ein sicheres Kapital an, von dessen Zinsen er
kiinftig seinen Leib pflegen wollte, und hielt ihn wie sein
eigenes Aug' im Kopf e, das er zwar oft durch Bier und Wein
rotete, es auch oft im Taumel bleuete, aber nichtsdestoweni-
ger bei niichternem Mut fiirs Lesen niitzlicher, guter Biicher
und fiir Tranen iiber sein Elend und das Elend anderer sorg-
f altig hiitete.
So lebte nun der junge Gulden seine Tage in der gleich-
formigsten Unordnung hin. Des Morgens, wenn der Vater
um eilfe erwachte, weckte er seinen Sohn und brachte ihm
eine Tasse dicken Kaffee ins Bette. Dann reckte er ihn die
Finger, damit sie fein lang werden sollten. Drauf muBte er
schnell aus dem Bette springen, die Geige ergreifen und bis
drei Uhr nachmittags unablassig spielen, um sich zur Mahl-
zeit dies oder jenes saure oder sxiBe Essen oder siiBen Wein
oder fiir die Mutter ein Paar Schuh oder einen Rock zu ver-
dienen.
Dies letzte war wirklich das starkste Zwangsmittel fiir ihn,
und das um desto mehr, da der Vater von des Sohnes Liebe
zur Mutter den kliigsten Gebrauch machte und ihr schlech-
terdings nichts gab, was sie nicht durch seinen FleiB erhielt.
Daher hatte dieser denn auch die Belohnung, daB, sooft die
Mutter jenen Rock, jene Schuh anhatte, es alien Anwesenden
mit groBem vollen Maul in seiner Gegenwart verkiindigt
wurde: Diesen Rock, diese Schuhe habe Heinrich der Mutter
geschenkt.
Konnte er dann aber nachmittags gar nicht mehr den Arm
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bewegen, so bekam er das Essen, welches oft schon drei Stun-
den in einer zinnernen Schussel oder im kupf ernen Kessel am
Feuer gestanden hatte. Unterdessen der Vater mit ihm aB,
wobei sie beide schweres Bier tranken, muBte die Mutter Kaf -
fee fur den Sohn kochen. War dieser heiB verzehrt, so muBte
er wieder die Geige ergreifen und unablassig bis acht Ulir
spielen; alsdenn puderte ihn der Vater die Haare, zog ihm
den pluschnen Rock an, den ihm ein alter abgedankter Lieute-
nant einmal im trunkenen Mute von seinem Leibe gegeben;
und war es Sonntag, auch noch die rote Weste dazu, die ihm
der Vater mit unechten goldnen Tressen hatte besetzen las-
sen, nebst Manschettenarmeln; und war es erster Feiertag,
gar noch ein reines Hemde.
Zwischen acht und neun Uhr des Abends ging er nun mit
seinem Vater ins Wirtshaus oder auf die Hochzeit oder auf
einen Korinthenball und strich da seine Geige, die ihm der
Vater unter dem Rocke hingetragen hatte, bis zum Anbruch
des f olgenden Tages. Hier sah' er nun alle die lustigen Ranke
und Schwanke, alle die niedrigen, ausschweifenden Zeitver-
kiirzungen und wolliistigen Handlungen niedertrachtiger
Kerle und schandlicher Weibsleute.
Seine gute, fromme Mutter suchte ihn zwar einen Abscheu
und Schrecken dawider einzuflofien, indem sie ihm in der
Einfalt ihres Herzens oft versicherte, daB darauf ewige Hol-
lenstrafen folgten. Was konnte das aber bei einem Kinde w r iir-
ken, das keinen Sinn fur die Zukunft hat, keine Erkenntnis
von Moralitat oder Unmoralitat der Handlungen anders als
durch gegenwartige Wtirkung erlangen kann, was konnte das
gegen den sinnlichen Eindruck tun! Selbst die dem Kinde
schon naher liegenden Griinde von notwendig drauf folgen-
der Krankheit und Gewissensunruhe hatten nichts gegen den
lebhaften und oftern sinnlichen Eindruck vermocht. Und
wenndenn auch jene Vorstellung der Mutter, oder vielmehr
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der hohle angstliche Ton, mit dem sie's sagte, und der ausge-
streckte Zeigefinger nach dem gliilienden Of en einigen Ein-
druck auf dem Knaben machte, so konnte ihn dieses varolii al-
lenfalls die plumpen, ekelhaften, abscheulichen Streiche des
Fleischhackers oder Windmiillers weniger schadlich machen;
die feinern und um soviel gottlosem Streiche des Friseurs
oder Balbiers blieben ilim dennoch ebenso gefahrlich und an-
steckend.
Wenn endlich die Gaste teils f ortgetaumelt, teils unter den
Tischen und Banken eingeschlafen waren, so leerten die Mu-
sikanten, wenn sie noch vermogend dazu waren, die herum-
stehenden Neigen von Bier und Branntewein, wovon dann
unser Knabe auch sein bescheiden Teil bekam. Nachher tau-
melte er mit seinem Vater ins Bette und erwartete, durch
den dampf enden Kaffee in der Hand desselben von schweren,
angstlicben Traumen zu einem aJhnlichen Tage ge^veckt zu
iverden; und das geschah dann Avieder so sicber um eilf Uhr 9
als gewiB die Sonne um vier Uhr aufging; es miiBte denn
den Abend vorher ein besonders wiclxtiges Gelag in der
Schenke oder Herberge gewesen sein, wovon dann die Musi-
kanten gemeiniglieh so voller Beulen und Wunden nach
Hause krocben als die Gaste selbst. Denn es war besonders
unter den Fleiscbhackern gebraucblicli, thre groBen Gelage
damit zu beschliefien, daB sie am Ende die Licbte ausloscbten
und mit Stuhlen und Banken und Tischen und Kriigen blind-
lings aufeinander zuschlugen, bis so einer nach dem andern
die Tiire fand und das Feld raumte; dies behielt gewohnlich
der Wirt als der gefahrlichste Feind in der Schlacht. Er war
einst selbst Fleischhacker gewesen und hatte sich nun, des
Wiirgens und Totschlagens miide — denn sein Bauch wurde
zu stark — , als Gastwirt und Herbergs vater zur Ruhe bege-
ben. Bei solchen groBen, wilden Gelagen pflegte er sich bei
guter Zeit — gemeiniglieh schon beim zwolften Kruge Bier —
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allgemach zu entfernen und sein schweres Haupt zur Ruhe zu
bringen/ Horte er aber den letzten wilden Larmen, den
FleischhackernachtgruB,beginnen, dann pochte ihm das Herz,
er konnte sich langer nicht halten, nahm eine Bettstolle oder
einen Ochsenziemer, den er noch als Ehrenzeichen iiber sein
Bette hangen hatte, und eilte in den streitenden Haufen,
schlug aus Leibeskraften mit darunter und empfing auch wie-
der Hiebe die Kreuz und die Quer. War ihm das Feld ge-
raumt, dann hinkte er wieder der Schlafkammer zu; fragte
ihn als dann sein Weib, wo er g ewes en, so antwortete er ganz
kalt: »Eck was enn beeten met dermank schloagen.«
Solche Schlachten lief en denn auch nicht ganz fruchtlos fur
die Musikanten ab. Gemeiniglich begann der Tumult ur-
plotzlich; Nacht und Sturm brachen so schrecklich herein, daB
die zwischen dem Ofen und dem Branntweinspinde einge-
klemmten Spielleute nicht schnell genug ihre Werkzeuge zu-
sammenraff en konnten. Da krochen sie dann hinter die groBe
BaBgeige, die konnte aber nicht alle f assen, sie rissen sich dar-
um, daB die schon jahrelang einsam tonende BaBsaite, die
lange schon keine mittonende Gehiilfin neben sich vernahm,
mit sturmglockenlachtigem Getose erschallte. Dieser verra-
terische Schall zog denn gemeiniglich das Getiimmel der
Schlacht nach diesen Winkel, und nun hieben alle auf die fur
tot daliegende Geiger und Pf eif er.
Hatte nun der alte Gulden nicht beizeiten die Vorsicht ge-
braucht, seinen Sohn hinter dem Ofen zu stecken oder ihn in
seinen ungarischen Pelz hinter sich einzuknopfen, daB man
seine klagende Stimme nicht deutlich genug vernahm, so rich-
tete der ergrimmte Dermankschlager seine besten Schlage auf
den armen Knaben. Denn der hatte einst seinen zehnjahrigen
Jungen, da dieser sich die Hande beschmiert und die Mutter
ihm zurief : »Wisch dich an die Musikanten ab«, und er sich
am sichersten glaubte an den siebenjahrigen Heinrich Wil-
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helm Gulden wischen zu konnen, so gewaltig hinter die Oh-
ren geschlagen, daB ihm das Blut aus Nas 7 und Maul gestiirzt.
Nach einem solchen groBen wichtigen Gelage, bei dem sich
die Schlacht auch hinterm Ofen gezogen, brachte denn der
alte Gulden mit seinem Sohne den folgenden Tag im Bette zu
und rieb sich die Glieder mit Kampfer und Branntwein, den
er beim Einreiben nicht selten beseufzte und seufzend ver-
schluckte.
In dieser Lebensart verflossen die kostlichsten Jahre unsers
f ahigen Knaben, der es in seinem achten Jahre schon wiirk-
lich zu einer bewundernswiirdigen Fertigkeit auf der Geige
gebracht hatte. Er spielte selten eine Menuett nach der Vor-
• schrift, sondern veranderte selbige oft mit groBen Schwierig-
keiten, zuweilen auch, und das gemeiniglich fur sich allein,
mit groBer Annehmlichkeit und Simplizitat. Doch hatte er
eine auBerordentlich simple und schone Menuett, die er samt
der herrlichen Melodie des Liedes : >Es ritten drei Reuter zum
Tor hinaus< hiemals veranderte. »Es sind gar zu schmucke
Dinger «, pflegte er zu sagen.
Es war einst an einem Sonntage, daB er bei dem Burge-
meister der Stadt spielte und uber einer elenden Menuett eine
recht schone Veranderung machte. Man wollte die Verande-
rung gern aufs Papier haben, und es wurde Dinte und Feder
gebracht; da ergab sich's aber, daB der arme Junge, der nun
bald neun Jahre alt war, nicht die Feder zu halten wuBte. Er
malte indessen, die Feder in der vollen Hand haltend, seine
Veranderung, zwar mit einigen Fehlern der Vorzeichnung,
aber doch mit vollig richtiger Taktabteilung, zum Erstaunen
ajler Anwesenden hin.
Auf das Zureden der andern lieB der Vater ihn nun von
einem armen Kandidaten lesen und schreiben lehren, setzte
dazu eine Stunde sonntags vormittags von zehn bis eilfe fest,
damit nichts in der Hauptsache, der Geige, versaumt wurde,
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und gab dem Kandidaten sechs neue Menuetten und sechs
Warschauer Polonoisen daftir, die dieser schon langst gern zu
haben gewiinscht, wofiir der alte Gulden zeither aber einen
Taler und zwolf Groschen verlangt hatte.
Auch schrieb der lehrbegierige Knabe seinem neuen Lehrer
alle englische und schwabische Tanze heimlich auf , damit er
ihm nur ein wenig mehr rechnen lehren und Geschichtbiicher
zu lesen geben mochte.
An einem Sonntage des Morgens aber, da der Kandidat
eben eine schwere Auf gabe, die der Knabe ausgerechnet hatte,
durcbsab und dieser wahrenddessen seinem Lehrer die
neueste, letzte Polonoise aufschrieb, fugte es sich, daB der alte
Gulden, der sonst noch immer sonntags wie wochentags bis
eilfe im Bette lag, dazukam. AuBerst erziirnt jagte er den
Kandidaten sogleich aus dem Hause, mit dem Verbot, nie
wiederzukommen, und den Knaben priigelte er fur den Un-
verstand, gute Stiicke an andere zu geben, wacker ab.
Der arme Junge, der mit auBerordentlicher Geschwindig-
keit und Scharfsinn das Rechnen geubt, die alte griechische
und romische Geschichte mit brennender Begierde studierte
und oft halbe Nachte, bei zusammengestohlnem Lichte, Le-
benslaufe beriihmter und groBer Manner gelesen hatte, wurde
nun seines Lehrers und Biicherversorgers beraubt. Zur Not
lesen, seinen Namen schreiben und den Gewinst von der
Hochzeit zusammenrechnen zu konnen, hielt der Vater fur
hinlanglich. Alles iibrige, meinte er, beschwere nur unnoti-
gerweise den Kopf des armen Kindes und hielte ihn von der
wichtigsten Beschaftigung, der Geige, ab. »Franzosisch, Fran-
zosisch sollst du mir lernen, sobald nur des Herrn Sprach-
meisters achtjahriges Tochterchen ein biBchen groBer ist, daB
du ihr wieder die Geige dafiir lehren kannst.«
Des Knaben Geschieklichkeit in der Geige fing wirklich an,
wichtig fiir den Vater zu werden. Der Biirgermeister, der
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selbst die Geige spielte, hatte ihm damals zur Belohnung fiir
die aufgeschriebene Veranderung zwei der schwersten Kon-
zerte und zwei Solos fiir die Geige gegeben: Und in drei Mo-
naten spielte er diese vier Stiicke mit bewundernswiirdiger
Fertigkeit. Dieses bestimmte den Vater zur Ausfiihrung sei-
nes schon langst gefafiten Vorsatzes, mit dem Knaben, als
mit einem Wundertiere, zu reisen.
Er nahm all sein bifichen Hab und Gut zusammen, um sich
und vorziiglich den Knaben mit so viel goldene und silberne
Tressen einfassen zu lassen, als er nur bezaMen und geborgt
erlaalten konnte. Die alt en Kl eider wurden dazu teils umge-
wandt, teils von neuem aufgefarbt; und aus der Mutter alten
pohlnischen Pelze, von schwerem Stoffe, in welchem die Apo-
stelgeschi elite eingewiirkt v^ar, der auch. schon seit der Mitte
des vorigen Jahrhunderts ein Erbstiick in der Familie der gu-
ten Frauen gewesen, vv^urden zwei Westen fiir unsern Knaben
geschnitten.
Auch wurden ikm die Haare, die ihn bisher locldgt um die
Schultern hingen, nach damaliger franzosischer Manier in
Thorn oben abgeschoren und an den Seiten zu Taubenfliigeln
frisiert, die gegen den anderthalb Viertel langen und ebenso
breiten Haarbeutel hinten zusammenschlugen.
Schwarze Halsbinden wurden fiir den Knaben aus derFlor-
kappe der Mutter zusammengestickt und von den Judenkan-
ten, w-omit die Brautkiissen der guten Frau besetzt waren, sie-
ben Paar Manschetten und dazu von ihrem Brautlaken zwei
Oberhemden gemacht, unter welche der Vater dem Knaben
wahrend der Reise die sieben Paar Manschetten nach der
Reihe unterheften wollte.
Die zinnernen Schuhschnallen wurden mit Kornbrannte-
wein und Kreide blank geputzt, damit sie das Ansehen von
silbernen Schnallen bekamen. Die schv^arzen Zeughosen
wusch der Vater mit saurem Bier glanzend ; mit Essig putzte
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unci steifte er den alten Hut des Knaben auf und setzte ilim
eine schwarze Feder drum, die ihm einst ein LandstraBenbe-
reuter auf einer Hochzeit statt der gewohnlichen vier guten
Groscben fur den Vortanz gegeben.
Nocb kaufte der Vater bei einem Trodler fiir den Knaben
eine einhausige silberne Tasehenuhr, die zwar keinen Minu-
tenzeiger, aber docb einen Stundenzeiger hatte, der sicb auch
bisweilen bei starken Erscbiitterungen fortbewegte. Daran
wurde gebunden ein breites halbseidenes feuerrotes Band,
von dem Feiertagsbrustlatz der Mutter abgetrennt, und an
dieses Band fiinf Uhrschliissel, drei von Messing, zwei von
Stahl, die der Vater seit vielen Jabren so gelegentlicb gesam-
melt und unter andern Kleinigkeiten, als Rockknopfe, West-
knopfe, Armelknopfe, Bleistifte, Kamme, Brotkrunien, Koli-
phonium, Dampfer und Reste von Wacbslicbtern, bei Juden-
hochzeiten eingesteckt, in der linken Westtascbe getragen
hatte. Dazu noch die beiden silbernen Trauringe der Eltern,
eine komiscbe Devise und ein Kruzifix von Bernstein kamen.
Auch wurde in den Hosen des Knaben iiber der rechten
Htisentasche eine Offnung gemacht, una dieses Uhrwerk hin-
einzustecken ; xiber dieser Offnung wurde ein groBer knocher-
ner Knopf angenahet und unten ein Hemes Knopf loch ge-
macht, das nur mit groBer Miihe iiber den Knopf ging. Wenn
nun das Werk gliicklich darinnen war, so knopfte der Vater
mit Anstrengung aller Krafte.die Offnung zu und fiigte mit
groBen Drohungen und hundert Fliichen und Schimpfwor-
ten den ausdrticklichen Bef ehl hinzu, daB der Knabe nie selbst
den Knopf aufknopfen und die Uhr herausnehmen, sondern
dieses dem Vater allein uberlassen sollte. Zehn solche Kna-
ben hatten den Knopf nicht bewegen konnen.
Der arme Junge hatte seine Not mit dieser Uhr: Denn
wohl zehnmal des Tages besah sie der Vater, ob auch alles
im Stande ware, und jedesmal gehdrte wohl eine viertelstiin-
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dige Operation dazu, um sie herauszubringen. Auch hatte der
Junge, bei aller Eitelkeit und allein Eigendiinkel, der ihm
so von alien Seiten eingefloBt wurde, noch natiirliche Scham
genug, sich des marktschreierischen Uhrbandes zu schamen.
LieB ihn der Vater allein ausgehen, so steckte er das ganze
Uhrgelaute in die unterste Hosentasche, damit es niemand sahe.
Er hatte dieses gleich den andern Tag getan, da ihn der
Vater zur Schau zum Nachbar zur linken Hand schickte, unter
dem Vorwande, zu fragen, wo doch der Herr Nachbar die
gestrigen schonen sauern Gurken habe holen lassen. Wenn
ihm dieser das sagte, sollte er fiir einen Groschen Gurken
auf zwei Tellern nehmen und einen Teller an den Nachbar
zur Rechten, den andern an den Nachbar geradeuber hin-
tragen, mit Bitte, nicht ubelzunehmen, daB der Herr Vater
und die Frau Mutter freundlich griiBen lieBen, und daB
sie vor etlichen Tagen saure Gurken eingemacht hatten, und
daB die Gurken gut geraten waren, und daB sie sich die Frei-
heit nahmen, ihnen ein paar davon zu schicken, und daB
sie ihnen einen guten Appetit wiinschen lieBen, und daB sie
ihnen wohl bekommen mochten.
Der Knabe, der kein Arg dabei hat und gewiB nicht auf
den Gedanken kommt, daB die Presentation seines Uhrban-
des der wahre Endzweck aller der Gange sei, steckt dieses aus
Scham, wie gesagt, beiseite, geht zum Nachbar zur Linken
und erf ahrt, daB der Mann selbst die Gurken einmacht und
verkauft. Er halt darauf die beiden Teller hin und bittet ihn,
auf jedem Teller fiir sechs Pfennige Gurken zu geben. Drauf
fragt der Herr Nachbar von gegeniiber und der Herr Nach-
bar zur Rechten, die zum Ungliick beide da sind, um eins auf
den fetten Kohl zu setzen, warum er die Gurken auf zwei
Tellern nahme? Der Knabe erzahlt ihnen dann ganz treu-
herzig mit alle dem daB, daB, daB, daB, daB er sie ihnen bei-
den hintragen sollte. Das erregt dann ein so schreckliches
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Lachen^ daB der eine den Gurkentopf zu Boden wirft und
dem andern das Glas vor Hem Munde springt.
Alle drei nehmen Stock und Hut, lauf en zum alten Gulden,
lob en seine Kunst, saure Gurken einzumachen, und danken
herzlich furs freundschaftliche Andenken. Der Alte, der die
wahre Ursache, warum er den Knaben geschickt, nicht sagen
darf, auch nicht Fassung genug hat, es in Scherz zu verkeh-
ren, muB seine Argernis verbeiBen, bis die Lachenden fort-
gehen und ihm freies Feld lassen, den Knaben vorzunehmen.
Im Hinausgehen und Begleiten der Gaste — denn er hatte
die Gewohnheit, seine Gaste bis auf den Mittelstein derStraBe
zu begleiten und dann noch zu bitten, das Geleite mitzu-
nehmen — , da warf er schon, den Gasten eine gesegneteMahl-
zeit wiinschend, dem Knaben, der sich schmeichelnd an seinen
Arm hing, einen finstern, drohenden Blick zu und stieB ihn
von sich.
Kaum war die Tiire verriegelt, so ergriff er mit der linken
Hand den armen Knaben bei den Haaren, mit der Rechten
griff er nach dem groBen eichenen BaBbogen — denn es waren
ihm auf den Hochzeiten seit einem Monat schon dreizehn
BaBbogen von leichterem Holze zerschlagen worden — und
priigelte an dem armen Jungen seine ganze Wut uber die
fehlgeschlagene grobe List ab.
Der Knabe, dem fur Schreck gleich Stimme und Sprache
vergangen, welches der Vater fur Hartnackigkeit und Fuhl-
losigkeit hielt, konnte endlich wieder schreien und schrie : »Ach
mein Arm, mein Arm!« Hier hemmte ein aufsteigender Ge-
danke im Vater, an Kapital und Zinsen, seine Wut, und er lieB
nach. Kaum fing der Knabe aber wieder an zu schmeicheln
und zu bitten, der Vater sollte doch nur weiter nicht bose
sein, so vermiBte dieser die Uhr an des Knaben Seite. »Tau-
send Teufel! «, und nun wieder mit der linken Hand nach
den Haaren des Knaben, mit der rechten den BaBbogen ver-
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kehrt, und das so lange, bis der Junge ohnmachtig vor ihm
lag. Nun erst die Frage: »Wb hast du Kanallie die Uhr ge-
lassen?« Der Knabe ist ohnmaclitig, er hort nicht. »Du zvillst
nicht antivorten, Bestie?« Und nun wieder einen Griff in die
Haare. Der Knabe erwacht. »Die Uhr, Bestie!« Der Knabe
zieht noch ganz ohnmaclitig den Uhrband hervor. Der Vater
reiBt voll miBtrauischerUngeduld und vollBosheit den Knopf
ab, der das Werk verschlieBt; er sieht die Uhr noch unbe-
schadigt, hebt den Jungen auf, tragt ihn aufs Bette und
schreit, daB die Fensterscheiben klirren: »Weib, Weib, Was-
ser, ungarisch Wasser, MagensektJ« Der arme Junge weint.
Der Vater: »Lach\ Jungchen, lach', ivein nicht, bist auch
mein liebes Heinchen. Da, sieh hier, ich ivill dir azich einen
Gulden schenken, utein' nur nicht, lach% Jungchen, lach'J«
Der arme Junge verzieht den Mund zum Lachen, er will
gern das Weinen unterdriicken, er kann aber nicht sogleich
und schluckset wiederum desto starker, je langer er es ver-
bissen hat. Der Vater i »Sieh doch so 'ne boBige Krote: Ich will
dir bei Gulden: Ein Quark sollst du haben: Ists nicht genug,
daB dein Vater dir gute Worte gibt? du Baseliske!«
Das Weinen und Schlucksen des Knaben legt sich nun na-
turlicherweise von selbst; er siehet den Vater liebreich und
bittend an. Der Vater -. »So, mein Hanschen, nun bist du mein
liebes Sohnchen, da hast du auch den Gulden. Was willst
du nun mit dem Gulden anfangen?« Der Knabe -. »Ich will
der lieben Mutter — — aber schelt' Er nur nicht, lieber Va-
ter — , ich will der Mutter schwarz Band in ihre Sonntags-
kappe und blau Band zu ihrer gelben Haube kaufen.« —
Ich habe diesen Vorfall, der sich am Sonntage ereignete,
ebendem Tage, an dem der Knabe zehn Jahre alt war und
an welchem der Vater zum heiligen Abendmahl gewesen, so
ausfuhrlich erzahlt, um den natiirlichen guten Charakter des
Knaben und seine abscheuliche Erziehung — zwei so oft und
19
fast allgemein vereinigte Dinge unter den Menschen — in
ein besseres Licht zu setzen.
Noch kaufte der Vater zur Ausstaf fierung des Knabens einen
kleinen Degen von Prinzmetal!, dessen Scheide er nicht vor-
sichtigerweise vernagelte oder verklebte — wie es wohl die
Eltern vieler adlicher Kinder wohlbedachtig zu tun pflegen,
die ihrem Knaben den Degen geben miissen, um ihn so friih
als moglich den dummen Adelstolz und die tyrannische
Herrschsucht des verdorbenen Menschen einzufloBen, damit
er nicht zur Beschamung seines Vaters den wahren Adel des
Menschen und die natiirliche Gleichheit der Menschen unter -
einander kennenlerne — , er vernagelte oder verklebte die
Scheide also nicht: nahm aber wohl die ganze Klinge heraus
und fullte die hohle Scheide mit f einem Sand. Daran
schleppte nun der arme Junge seine Ehre und seine Not.
Nun stand der Knabe vollig ausstaffiert da. Man denke sich
itzt den ganzen marktschreierschen Anzug zusammen und
unter diesem Anzuge einen allerliebsten Jungen mit groBen
blauen Augen, hellbraunem Haare, einer nicht zu hohen,
sanft gewolbten Stirne, einer sanft gebogenen Nase, einem
sanft geriindeten Munde, der immer freundlich lachelte, und
einem langlichrunden Kinn. Diesem lieblichen Gesichte fehlte
nichts als die f eine Mischung von WeiB und Rot bei gesunden
Kindern, denn sein Blut v^ar durch die unordentliche Lebens-
art zu dick, stets zu sehr in Wallung und farbte das Gesicht
des Knaben unnatiirlich rot. Auch fehlte ihm aus ebendem
Grunde die Zierde der weiBen Zahne. Er -war iiberaus wohl-
gewachsen, nur nicht groBer und starker, als gesunde Kinder
gemeiniglich von sieben bis acht Jahren zu sein pflegen.
Der Vater kaufte sich vom Trodler einen scharlachroten
Rock mit breiten goldnen, oft gewaschenen und mit Marien-
glas geputzten Tressen, den der Trodler schon lange vom
Scharfrichter des Orts in Kommission hatte und in welchem
20
^..
dieser Ehrenmann seit zwanzig Jahren sein Ehrenamt ver-
richtet hatte. Dazu kaufte er sich noch eine hellblaue seidene
Weste, worauf allerlei siidamerikanische Vogel von der hell-
sten, brennendsten Farbe gemalt waren und die mit breiten
Frangen und langen Trodlen von schwarzer Seide und Sil-
berdralit besetzt war. Er vervollkommete dieses Meisterstiick
dadurch, daB er in den Zwischenraumen von dem Schnabel
des einen Vogels zum Schnabel des andern einige Linien No-
ten mit Silberfaden und schwarzer Seide hineinsticken lieB.
Hosen durfte er sich nicht neu anschaffen, denn er hatte
sich nicht langst ein Paar f ein kalblederne Hosen angeschafft,
die durfte er nur schwarz farben lassen. Waren auch gleich
durch den letzten Vorfall im Wirtshause, da die besoffnen
Gaste auf den lustigen Einf all kamen, die ganze Musikanten-
bande zu zwingen, eine halbe Stunde auf Erbsen knieend zu
spielen, die neuen Hosen an den Knien. durchgescheuert, so
wurde das durch die hochaufgezogenen Stief ein bedeckt. Noch
kaufte er sich einen alten gewaschenen und umgewandten
Hut mit breiter goldenen Tress e und einen Haudegen mit
einer breiten Barenklinge.
Nun f ehlte es nur noch an Reisegeld und an Bestimmung
der Art und Weise zu reisen. Es wurden verschiedene Pro-
jekte gemacht und einige auch ausgefiihrt. Das erste war,
daB der Vater die einhausige Stundenuhr des Knaben, die
fiinf Taler gekostet hatte, unter funfzig Subskribenten zu
einem Taler Einsatz ausspielte. Das sollte manchem schwer
werden; allein er wuBte das Ding von der Seite anzugrei-
fen, von der in der gegenwartigen Welt alles am sichersten
ausgefiihrt ist. Er faBte die Herren von seiten der Torheit,
der Eitelkeit und des unzeitigenMitleidens. Er und der Knabe
zogen beide ihre neuen Staatskleider an und iiberfielen alt
und jung bei dem Fruhstiicke.
Der Eintritt dieser Masken ins Zimmer erregte bei jedem
21
ein ausgelassenes Gelachter : Und das heiBt bei gemeineii Men-
schenseeien schon eine Schleuse zur Freigebigkeit geoffnet.
Die andere offnete sich der Vater durch seine Anrede : »Euer
Gnaden sind viel zu groftmutig und schenerose, als daf3 sie
nicht ein TVerh der Barmherzigkeit an diesem armen Knaben
ausuben sollten« usw.
War noch eine Schleuse vor denHerzen des gnadigen Herrn
verschlossen, der oft auch ein Gewiirzkramer war, so hieB es :
»Der arme Junge hat kein ganzes Hemde, kein ganzes Un-
terkamsolchen; zieh den Rock ab, Heinchen, zeig's demgna-
digen Herrn; ich A?vill ihm auch gern ein en warmen tTber-
rock als ein ungrisch Pelzchen zum Winter machen lassen,
allein ich armer Schelm «
Nun ergriff der^veise, giitige, groBmiitigeMenschenfreund,
der's nicht ubers Herze bringen konnte, den Herrn Papa auf
die Tressen seines und des Knaben Rock zu verweisen, die
Feder; ehe er aber noch seinen Namen ganz zu Ende ge-
schrieben hatte, kiiBte ihm der alte Gulden den Armel und
sprach mit flehender Stimme : » Wenn Euer Gnaden die Uhr
gewinnen, sind Sie auch ^vvohl so gnadig, sie dem armen Jun-
gen zu lassen; es ist ein Patengeschenk von seinem GroB-
vater, die hochste Not hat mich gezwungen . . .« — »Ja, ja,
meinetwegen, alter Geck«, sagte der groBmutige Mann und
warf ihm den Taler hin, daB er dreimal hellklingend um
seine FiiBe rollte. So ging das in der ganzen Stadt herum,
und statt der im Plan bestimmten funfzig Personen waren
bald fiinfundneunzig beisammen. Was blieb aber davon zum
Reisegelde iibrig ?
Beijedem errungenen Taler kehrte der Vater mit dem Kna-
ben in ein Weinhaus, Kaffeehaus oder beim Kuchenbacker
ein, um den SchweiB seines Angesichts zu trocknen; und da
ging denn immer ein Dritteil des Talers drauf . Bei der wirk-
lichen Ausspielung der Uhr -war ein Konzert versprochen und
22
wurde audi gegeben. Dazu waren alle musikalische Bier-
briider des alten Gulden eingeladen. Es kamen ihrer zwei-
unddreiBig zusammen; die fraBen und soffen bis in die spate
sinkende Nacht, und denMorgen darauf betrug die Reclaming
fiir sieben Karpfen, sechs gebratene Ganse, drei Spannferkel,
eilf Pfund Butter, zehn groBe Brote, anderthalb Tonneii
Bier und sieben MaB Branntwein, zweiundsiebenzig zerschla-
gene Pfeifen und fiinfunddreiBig zerschlagene Glaser und
Bouteillen zweiunddreiBig Taler.
Da sie des Morgens friih um drei Uhr von dem Schmause-
platz nach Hause kehrten, bescblossen sie, dem dasigen be-
riihmtesten Pf efferkuchenb acker ein niedliches Standchen zu
bringen. Dieser hatte sich vor einigen Wochen einf alien las-
sen, die tragikomische Szene, wie die ganze Musikantenbande
einst auf Erbsen kniend mit graBlicben Gebarden lustige
Tanze spielen muBte, auf einem drei Ellen langen und zwei
Ellen breiten Pfefferkuchen gar possierlich abzubilden. Da-
f iir hatten sie denn geschworen, ihm einen Streich zu spielen,
nie aber fuhlten sie so viel Mut zur Ausfuhrung als eben
jetzt, da sie mit schweren Kopfen und leichten FiiBen aus
dem dicken Tabaksdampfe, der langst scbon die Decke der
Stube scb^varz gefaxbt, in die freie friscbe Luft unter klaren
bestirnten Him m el hintraten.
Es wnrde also beschlossen, daB jeder dieser zweiunddreiBig
ein Instrument nelimen sollte, Tvelcb.es er am wenigsten spie-
len konnte, und so wollten sie alle unter den Fenstern des
Pfefferkuchenbackers, jeder aus einem andern Tone oder in
einer andern Stimmung, das Lied spielen: >0 Eitelkeift, o
Herzeleid, ist das nicht zu beklagen?<
Nun waren sie unter den Fenstern des Pf eff erkucbenbak-
kers, und ohne weiter sich um die Stimmung der Instrumente
zu bekummern, huben sie die graBlicbste Musik an. Kaum
hatten sie die erste Strophe des Lieds gespielt, so beschien
25
der Mond, der bis jetzt die gauze Nacht einsame Fenster be-
schienen, schon hundert Nachtmutzen und Nachtkorsetts. Bald
waren alle Fenster gepfropft voll Menschen, und bald horte
man vor lautes Lachen und Geschrei das graBliche Geheule
der Spielenden nicht mehr.
Der Pf eff erkuchenbacker, welcher bald gewahr wurde, daB
der SpaB ihm galte und daB er der Gegenstand des Gelach-
ters sei, beschloB einen plotzlichen Uberfall, nahm sein Weib,
fiinf Kinder, zwei Gesellen, neun Lehrbursche und die Magd
zusammen, besetzte mit den Weibern und Kindern die obern
Fenster und gab ihnen alles wasserhaltendeGeschirrim Hause
vollgefullt zum Geschiitz, er aber mit den ubrigen Manns-
leuten nahm alles, -was an Holz und Eisen im Hause beweg-
lich war, und lagerte sich in^wendig vor die Haustiire. Die
Ttirglocke gab das Zerchen zum Ausfall; sie erklang, und nun
entstiirzten plotzlich aus schnellgeoffneten Fenstern alle im
Hause enthaltene Feuchtigkeiten, und in demselben Augen-
blick stiirzten die Be^waffneten aus der Tiir und schlugen den
schrecklichsten Takt zu der herzbrechenden Musik.
Der Altgesell, "welcher die Schlacht kommandierte, fiel
gleich iiber den alten Gulden her, der mit einer groBen Stock-
laterne auf der Schulter an derSpitze stand, und nach einigem
Widerstande entriB ihm sein Gegner die Laterne. Da ergriff
der alte Gulden die Flucht, sein Gegner verf olgte ihn, ereilte
ihn aber anf anglich nicht, bis Gulden an einen breiten Renn-
stein kam, neben dem der Mond durch eine enge Gasse einen
schmalen Schein warf . Gulden sieht den Schein f iir den Renn-
stein an und springt uber den Mond bis an die Brust hinein.
Nun steht er da fest, sein Gegner ereilt ihn und schlagt ihm
von hinten die groBe Laterne iiber den Kopf , daB sie ihm wie
ein niedersachsischer Priesterkragen stolz um den Hals steht
und der Stock wie ein franzosischer Steifzopf hinten weg-
strotzt, der manchen Franzosen schon schiitzte, daB das
24
Schwert des Feindes nicht in den Nacken drang, und in sei-
nem Lauf ihn aufhielt.
Sieben andre musikalischeMitglieder des grausamen Stand -
chens hatten ihre Flucht durch einen andern Weg nach dieser
engen Gasse genommen, -wo eben der Mond zwischen hohen
Giebelhausern auf die Mitte der StraBe fiel. Sie glaubten, die
Strafie sei vom Wasser iiberschwemmt, welches der breite
Rennstein zuweilen wohl verursachte, und kamen auf alien
vieren unter den hervorstehenden hohlen Treppen der Hau-
ser mit unglaublicher Miihe, unzahligen KopfstoBen und un-
beschreiblicher Angst durchgekrochen.
Gulden, dem die hohle Klappe der Laterne gerade vor dem
Maule lag, rief mit fiirehterlichem hohlen Tone — furchter-
licher noch, als der auf Reisen befindliche holzerne hochbei-
nige Arcbimedes durch sein zw^ei Ellen langes Spraclirohr sich
mit seiner gegeniibersitzenden kopfwackelnden Schonen un-
terredet — : »Hiilfe! Hiilfe!«
Die Kriechenden nahmen das fur einen neuen Beweis, daB
alles unter Wasser steht, und ziehen sich. den beschwerlichen
und abscheulichen Weg unter den Treppen wieder zuriick,
wodurch sich Gulden wieder verlassen sieht und nun voll Ver-
zweiflung den Rennstein lang neben sie her wadet. Bei der
letzten Treppe wird der junge Heinrich Gulden, der unter
den sieben Kriechenden war, durch eine Offnung gewahr, daB
der im Wasser Wadende sein Vater ist, schnell springt er her-
vor, will sich ins Wasser stiirzen, seinen Vater zu retten, tritt
aber, zum Erstaunen aller iibrigen, auf trockenes vom Monde
beschienenes Steinpflaster, neben welchem auf der einen Seite
der alte Gulden im Rennstein wadet und auf der andern die
iibrigen unter der Treppe hinkriechen.
Nach hundert lustigen Fliichen iiber ihre Blindheit und
langen Gelachter iiber den weinenden Gulden mit neumodi-
schem Kragen und Zopf ziehen sie sich allmahlich nach dem
25
Ort des Ausmarsches zuriick, wo sie denn auch schon die ubri-
gen Vefwundeten beisammenfanden. Neune waren schwer
blessiert, die iibrigen aber mit leichten Wunden und Beulen
davongekommen ; diejenigen, die den engen PaB unter den
Treppen defiliert hatten, waren am ubelsten an den Kopfen
zugerichtet, da war Beule an Beule.
Auch. waren auJBer der zerschlagenen Laterne zwei Wald-
horner, vier Fagotten, zwei Zinken, drei Hoboen, ein Hacke-
brett und eine Trompete sehr beschadigt, welche Reparatur
der alte Gulden von dem Uhrgelde mit acht Talern bezahlen
muBte. Dazu kam noch, daB siebzehn jener gnadigen Herren
nicht bezahlt hatten und nachher den alten Gulden mit dem
Nachttopf aus dem Fenster drohten, wenn er zum andern
Male starker an die Ture klopfte. Es blieb also nach dieser
genauen Rechnung von der ganzen Masse sechs Taler acht
Groschen zur Reise ubrig.
Dafiir -waren auf Rechnung eines andern vollig fehlge-
schlagnen Projekts schon dreiBig Taler Schulden gemacht.
Denn es ist die Art aller schwachen, unverniinftigen Projekt-
macher, daB, wenn sie so etwas im Kopfe ausgeheckt haben,
sie sehr bald mit dem Dinge so bekannt werden, daB sie gar
keine Moglichkeit mehr einsehn, wie das f ehlschlagen konnte.
Und nun borgen und leben sie schon frisch drauflos, als wenn
das schlechterdings alles so kommen muB, wie sie sich's dach-
ten. Und daruber ^vird denn noch. selbst die Anwendung der
Mittel vernachlassigt, die es allein noch. moglich machen
konnten.
Es w^urde noch. dieses und jenes versucht, allein vergeblich.
Kein ander Mittel blieb iibrig, als nun die Reise bekanntzu-
machen, von alien Gonnern und Patronen Abschied zu neh-
men und bei dem letzten KratzfuB die Hand so zu halten,
daB, wenn etwas hineinfiele, es nicht verlorenginge. Das ge-
schah, und da der Vater beim Kommendanten der Stadt an-
26
fing und bis auf den Gewiirzkramer herunter kein Glied der
Kette menschlicher Wesen unbetastet lieB, auch bei jedem
seine Rolle mit dem Knaben so spielte wie dort bei Anwer-
bung der Subskribenten zur Uhr, so kamen in siebzelm ab-
schiednehmenden Tagen einhundertzweiundsiebzig Taler eilf
Groschen fiinf Pf ennige zusammen. Ungerechnet die f alschen
und ungangbaren Miinzen, die sicb darunter befanden und
sich an siebenunddreiBig Stuck beliefen, von denen der Alte
inkurzerZeitzwanzig mit unterlaufend an den Mann brachte.
Zweiundzwanzig Taler, die in den siebzehn abschiedneh-
menden Tagen wieder auf demWege inErfrischungen drauf-
gegangen waren, und jene dreiBig Taler Schulden abgerech-
net, blieben also reines Reisegeld einhundertzwanzig Taler
eilf Groschen und fiinf Pf ennige; und nun ging's ans An-
scliaffen des Reisegerats.
Nach langem Hinundhersinnen und ofteren heftigen Be-
ratschlagungen und Streitigkeiten und zweimaligen Schila-
gereien mit andern Biergasten iiber die beste Art zu reisen
wurde folgende festgesetzt: Der Alte kaufte fiir sieben Taler
zwolf Groschen ein kleines, buckligtes Pferd mit Sattel und
Zeug von einem polnisclien Juden, darauf ritt er, den Knaben
vor sich haltend, in bestandigem PaB. Zu Forts chaff ung der
Mobilien und Instrumente, wozu der Alte einen grofien hol-
zernenVerschlag von den Brettern seines Huhnerbodens hatte
machen lassen, ^wurde ein Handschubkarren angeschafft. Die-
sen schob Johann Giirgel Rothbart, der bisher bei der Musi-
kantenbande des Orts seines starken Arms wegen den groBen
BaB mit dem vorerwahnten eichnen Bogen gestrichen hatte
und jetzt zum treuen Reisegefahrten und Bruder des alten
Gulden auf der LandstraBe, in den Stadten aber zum Diener
desselben erwahlt ^vorden war.
Noch wurde vor dem Schubkarren mit einem langen Stricke
der alte ehrliche Kallax vorgespannt, den der alte Gulden
27
vor einigen Jahren von dem Scharfrichter des Orts imWiirf el-
spiel gewonnen, unterdes&en dieser treue Hund den Hof sei-
nes Herrn treulich bewachte und unter der zwar strengen,
aber doch fur Hungersnot, Tollheit und Vergiftung sichern
Regierung seines Herrn zu leben und zu sterben glaubte. Er
war dem Scharfrichter auch urn desto knechtlich kindlicher
zugetan, da er ihn, aus dem Hause des Herrn von Kallax auf
Kallaxburg verstoBen, krank und schwach hingekommen,
von ihm, seines guten Fells und dicken Kopfs wegen, geheilet
und ernahrt worden war. Da man dem Knechte des Scharf-
richters, der ihn abgeholt, nicht den Namen des Hundes da-
bei gesagt, so hieB ihn dieser, nach seiner alten Gewohnheit,
nach den Namen seines vorigen Herrn den alten Kallax.
In dieser Ordnung zog nun der alte Gulden mit seinem
Sohn, dem alten Rothbart, dem kleinen Schecken und dem
dickkopfigten alten Kallax am I.August 1747 zur Stadt
Thorn hinaus und nahm seinen Weg nach Warschau, deren
Einwohner damals weit und breit beriihmt waren an Neu-
gierde und Freigebigkeit fiir alle Wundertiere jeder Art. Ich
will mich auf die Beschreibung aller der lustigen und narri-
schen Auftritte der Reisenden nicht einlassen, einige aber
kann ich doch nicht ganz verschweigen.
Ehe ich meine Erzahlung anfange, muB ich erst sagen, daB
unsre Reisenden durch die groBe Hitze gezwungen wurden,
sich der Last der Kleider zu entledigen. Der alte Gulden zog
seinen Rock, seine Weste und sein Hemde ab und behielt bloB
ein weiBes flanellenes weites Nachtkamisol an, so er sonst
unter dem Kleide zu tragen pflegte, seine Periicke legte er
auch auf den Karren und setzte sich eine runde Kappe von
weiBem, mit schwarzen Flecken gesprenkelten Schaffell auf.
Uber das Kamisol hatte er das Degengehenk gespannt.
Der alte Rothbart, der die Meinung der Ungarn hatte, daB
ein Pelz im Winter fiir die Kalte und, wenn er umgekehrt
28
wxirde, im Sommer fur die Hitze diene, hatte seinen langen
weiBen Schafpelz umgekehrt auf dem blofien Leibe, und nun
schwitzte er unter der Last des Pelzes und schwamm im Bade
seiner Ausdiinstungen, um nicht von dem Schein der Sonne
zum SchweiB gebracht zu werden.
Den armen Knaben hatte der Vater, der noch wehenden
Luft wegen, in seinen Mantel eingewickelt und die samt-
ne Reisekappe, wenigstens ganz los, unter dem Halse zuge-
bunden, damit er sich ja nicht erkalte. Die Pelzschuhe, Pelz-
miitze und Pelzhandschuhe des Knaben lagen auch auf dem
Karren.
So zogen sie gleich den Nachmittag des ersten Tages, ohne
es zu wissen, durch Kallaxburg. Sie muBten dem Adelhofe,
der Wohnung des Herrn von Kallax^ dichte vorbei. Indem sie
nun eben unter dem Fenster sind, in welchem oben der alte
podagrische Herr von Kallax liegt und iiber den komischen
Zug vor Lacben vergebn will, erkennt der alte vorgespannte
Kallax seines vorigen Herrn Haus und straubt sich, von der
Stelle zu gehen. Der alte Gulden, der kein Arges wahnte,
halt es f iir Faulheit, reit auf ihn zu und ruf t unablassig : »Na,
du alter Kallax ^ du alter Racker, ivillst du zuohl voriudrts!«
Der alte Kallax im Fenster hort unten seinen Namen schimp-
f en und glaubt, die Kerls schimpf en ihn und sein hochadliges
Podagra, gerat in Zorn, schreit und lautet nach seinen Be-
dienten.
Da indessen nicht gleich auf den ersten Schrei einer er-
scheint und er selbst seines heftigen Podagras wegen nicht
vom Stuhle kann, ergreift er die vor ihm stehende Schale
voll Bischof und wirft sie dem alten Gulden, noch zu Pf erde
sitzend und nach der Seite zum alten Hunde stark iiberge-
bogen, grade iiber den Kopf . Dieser taumelt fur Schreck vom
Pferde und glaubt, vom dunkelroten Bischof iiberflossen, in
seinem Blute zu liegen.
29
Der arme Knabe, den er im Reiten sich angeschnallt hatte,
lag unter ihm und war wxrklich in Gefahr zu ersticken.
Der alte Rothbart bemiihte sich, seine Sielen, mit denen er
an den Schubkarren fest war, loszumachen, um dem alten
Guldeiz zu Htilf e zu eilen, war aber zu eilig darin und fiel die
Lange lang, mit den FiiBen unter dem Karren.
Kallax war indessen beschaftigt, seinen Strick, den er nicht
zerreiBen konnte, abzubeiBen.
Nun kamen die Bedienten des Herrn von Kallax mit Flin-
ten ohne Lauf e, Degen, deren Klingen fest in ihren Scheiden
waren, Ofengabeln und Ochsenziemern zusammen und woll-
ten iiber die Zigeunerbande, wie sie schrien, herfallen. Sie
fanden aber das Feld schon geraumt.
Rothbart indessen, der sich nicht wie Gulden tot glaubte,
sahe die feindliche Armee anriicken und wandte von neuem
alle seine Krafte an, auf die Beine zu kommen. Nun waren
aber die Hindernisse doppelt. Vorne die Sielen wie vorher
und hinten eine Flintenkolbe und ein DegengefaB, die sich
beide um seinen Riicken zu streiten schienen. Diese verdop-
pelten stets ihre Starke und Schnelligkeit, da der alte Roth-
bart unaufhorlich rief : »Kallax, alter Kallax , du alter Racker,
alte Bestie«, in der Absicht, den Hund zur Hiilfe zu rufen,
der immer noch bemuht war, sich loszumachen.
Der Kuchenjunge mit der Ofengabel und der Hundejunge
mit dem Ochsenziemer fielen indes den alten Gulden an, der
wie tot neben seinen Schecken lag und den Mund und die
Augen fest zugekniff en hatte, damit ihm nicht sein eigen Blut
oder vielmehr der Bischof ins Maul laufen mochte. Er hielt
auch fiinf Schlage mit der Ofengabel und sieben mit dem
Ochsenziemer aus, ehe er den Mund und die festgeschloBnen
Augen auftat. Endlich aber erhob er ein furchterlich Gebrull
und walzte sich auf die andre Seite, wodurch denn der arme
Knabe Luft bekam und sich hervorzog.
50
Unterdessen war der Hund losgekommen und lief nun heu-
lend und schmeichelnd zu den Bedienten, von den Bedienten
wieder zum alten Gulden, dann wieder zu den Bedienten und
wieder zum alten Rothbart.
Der Kiichenjunge und der Hundejunge, die gewahr wur-
den, daB sich der alte Rothbart bemiihte, wiewohl vergeblicli,
den alten Kallax auf die Bedienten zu hetzen, fielen nun uber
den Hund her, den sie nicht erkannten.
Dadurch gewann der alte Gulden Zeit, sich aufzuraffen
und sich nach seinem Kapital und Zinsen umzusehen.
Der Knabe hatte weinend das Knie des Kuchenjungen um-
faBt und bat flehentlich fur den armen alten Kallax. Dieser
Anblick rxihrte den alten Herm von Kallax am Fenster, der
von oben herab die Schlacht kommandierte, gleich dem feu-
rigen Admiral einerFlotte, der auf dieSpitze des Hauptmastes
gestiegen, um von da die Lage der Sachen genauer zu erken-
nen, und von oben herab seine Befehle hinabdonnert.
Durch den Anblick des Knaben geruhrt, gab er Bef ehl zu
einen Waffenstillstand, hieB die Gefangnen und ruhmlichst
Uberwundnen vor sich fiihren und schrie von oben herab:
»All die mordialische Blitz- Hagel-Wirtschaft mit her auf ; alt
und jung, Esel und Hund, auch der Sapperments-Kuckkasten
und die ganze tausend elementarische Wirtschaft!«
Nun denke man sich den alten Gulden, wie sein weiBes fla-
nellnes Kamisol und die weiB und schwarz gesprenkeltePelz-
kappe, von dem purpurroten Bischof uberstromt, mit sehr man-
nigfaltigenSinnbildernundKarikaturfiguren geziert^war; wie
er, dessen klagliches Gesicht auch von Bischof uberstromt,
blutige Tranen zu weinen schien, nun gezwungen wurde, sich
auf den Schecken zu setzen und so die steile Treppe hinaufzu-
reiten. Nichts anders hatte ihn auf dem Pferde erhalten kon-
nen als der Ochsenziemer zur Rechten und die Of engabel zur
Linken, denn mit jedem Fehltritt des Pferdes glaubte er sein
31
Grab zu erblicken. Um das MaB seiner Angst vollzumachen,
amiisierte noch der achtjahrige Junker des Hauses den Schek-
ken von hinten mit einer SpieBrute.
Unser guter Knabe wurde auf den alten Hund gesetzt und
so die Treppe heraufgezogen. Mit Gehen konnte der Hund
nicht so recht vorwartskommen, da sich der sechsj ahrige Junker
und das fiinfj ahrige Fraulein des Hauses an den Schwanz des
Hundes angehangen hatten und sich so mit fortziehen lieBen.
Den alten Rothbart, dem die Flintenkolbe mit Ol und Pul-
ver Sonne, Mond und Sterne auf seinen weiBen Schafpelz ge-
malt, den hatten sie den schweren Bretterkasten auf dem
Kopf gesetzt, und so muBte er sich die Treppe hinanarbeiten.
Was ihn sehr oft straucheln machte, war, daB sich der vier-
j ahrige und dreij ahrige Junker und das zweij ahrige Fraulein
des Hauses unter seinen langen Schafspelz versteckt hatten,
ihm da das Brot und die Kase aus der Tasche mausten und
unter dem Pelze zu verzehren begannen, bis sie von der Flin-
tenkolbe und dem DegengefaBe, die noch immer die Ober-
direktion iiber den Rothbart fiihrten, gelegentlich zwischen
Rothbarts Beinen hervorgetrieben wurden.
Den Zug beschloB der Hofmeister der jungen Herrschaft,
der eben aus dem Stalle kam, wo er des altesten, vierzehnjah-
rigen Junkers Grauschimmel hatte striegeln und kartatschen
miissen, weil der Junker selbst durch eine ritterliche Ubung,
die ihm sein gnadiger Papa auf dem groBen Saal vornehmen
lieB, davon abgehalten warden. Neben ihm, wiewohl einen
halben Schritt zuriick, ging das erhitzte alteste, sechzehnj ah-
rige Fraulein des Hauses, die seit der Zeit, daB der Herr
Hofmeister mit dem altesten Junker abwechselnd die Reit-
pferde striegelten, ganz besondern Wohlgeruch am Pferde-
mist fand und deshalb oft den dunkeln Stall besuchte. Der
gnadige Papa freute sich des hochadlich ritterlichen Gebluts
in ihren Adern herzinniglich.
52
Nun sind sie oben. Die Saaltiire geht auf . Am auBersten
Ende sitzt der alte podagrische Herr von Kallax, erhebt sich
mit dem halben GesaBe und ruft, so weit vorgebogen, als er
kann, dem Zuge entgegen: »Aber ihr tausend mordialische
Hollenhunde — hahahaha! — potz Element, der Kerl sieht
aus . . .«, und nun konnte er fiir baucherschiitterndes Lachen
nicbt weiter. Der alteste Junker, der von drei verordneten
Straf stunden erst zwei auf dem bolzernen Esel in der Ecke des
Saals geritten, vergafi die Strenge seines gnadigen Papas und
entsprang dem geduldigen Esel. Die gnadige Frau Mama, die
eben in derKiicbe bescbaftigt war,ibr scbwarzbraunes Gesicbt
mit saurer Molken zu wascben, um es fiir Sommerflecken zu
be^wahren, vergaB, sicb abzutrocknen, stiirzte mit dem ^sreiBen
Milchgesichte in den Saal und sprengte ihren Schniirband mit
ausgelassenem Lacben.
Der alte Gulden^ der sicb gerne verantworten ^wollte,
konnte sich auf keine Weise dem alten Herrn von Kallax
nahern; vom Pferde lieBen ihn seine bewaffneten Wachter
nicht, und den Scbecken konnt' er auf keine Weise weiter vor-
wartsbringen. Dieses sein angstliches Schweben und Streben
verdoppelte das allgemeine Gelachter. Nicbt des alten Gulden
Fleben, nicht des Rothbarts Fluchen, nicht des Knaben Wei-
nen, nicht des Hundes Heulen drang bis zu den Ohren des
Herrn von Kallax, alles wurde von dem schrecklichen, glas-
schmetternden Gelachter erstickt.
Kaum hatte aber der alte Herr von Kallax wieder et^was
Luft geschopft, so schrie er, vorher dreimal mit der Parforce-
peitsche auf den groBen Tisch schlagend, durch all den Lar-
men durch : »Lustig 7 ihr Sapperments-Hunde, lustigden Kuck-
kasten ausgepackt, all eure Schnurrpfeifereien heraus, alle
eure tausendelementarische Hokuspokus aufgezuichst!«
Gulden und Rothbarts Protestation, daB sie keine Taschen-
spieler oder Marionettenspieler waren, daB in dem Kasten
33
solche kxinstliche Sachen nicht enthalten waren, wurden nicht
angehort, der Alte schrie nur immer: »Ruhrt euch, ihr Hun-
de, oder ich riihre mich!« Auf dieses alien Sinnen im Hause
f iirchterliche Machtwort fielen die Bedienten uber den Kasten
her und schlugen ihn voneinander. Da lag nun die ganze
bunte Wirtschaft vom Federhut bis zum Stief elknecht, dabei
zwei Geigen und eine Menge Noten.
»Musikanten sind's, Euer hochiuohlgebornen Gnaden«,
rief eiii Bedi enter. »Musikanten? Potz Element, die Kerls
kommen ja zuie gerufen, als ivenn sie der Erzengel Gabriel
aus einer Pistole vom Himmel herabgeschossen hatte. Hans,
lauf du gleich zu dem Musikantengeschmeif3 in der Schenke,
sie durften auf morgen keine Musikanten kommen lassen, zuir
hdtten schon zuelche aufgegriffen. Lustig, eins aufgewichst,
du alte vers off ene Pelzkappe/«
Gulden sprach von reisenden Virtuosen, von Konigen und
Kaiser — aber in den Wind. »Aufgetuichst, lustig aufge-
u)ichst!« schrie der alte Herr von Kallax ohne UnterlaB. End-
lich erliielten sie denn doch die Erlaubnis, sich erst zu reini-
gen und in klangbaren Stand zu setzen. Nun zog der ganze
ZugnachderKiichenstube,da klarte sich dann das ganze MiB-
verstandnis mit dem Hunde bald auf, und die unverdienten
Priigel wurden ihnen mit Bier und Branntwein und man-
cherlei Speisen reichlich. ersetzt. Audi wurden sie mit dem
Herrn von Kallax einig, zu seinem morgenden Geburtstage
dazubleiben und einer Gesellschaft Dorfkomodianten, die zur
morgenden Feier verschrieben ^raren, mit ihren Instrumen-
ten bebulflich zu sein.
Der alte Gulden hielt es fur schicklich, dem Direktor der
Komodianten seine Aufwartung zu machen, und da der Kna-
be, der noch nie eine Komodie gesehn, gehort hatte, es wiirde
den Abend in der Schenke eine Vorstellung gegeben, bat er
den Vater, ihn mitzunehmen. Sie setzten sich alsobald ins
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Zeug und gingen im volligen Staate nach der Schenke hin.
Rothbart ersehien hier zum ersten Male in seiner Livree : ein
alter brauner Rock mit steifen SchoBen und kleinen zinner-
nen Knopf en bis unten herunter, gezeicbnet mit groBen feuer-
roten Aufschlagen und einem secbseckigten Kragen, aus des
alten Gulden altesten pliiscbnen Hosen geschnitten, dazu ein
weifi kanevasnes Kamisol mit groBen roten Blumen; griine
Zeughosen mit goldnen Kniegiirteln und blaue wollne
Strumpfe. An dem groBen Hut ein kleiner goldner Knopf
und eine siebenf acbe breite scbwarze Scbleif e von einem alten
HaarbeuteL So wadete er durcb den tiefen Sand naeh der
Schenke voraus, um seine Herrscbaft anzumelden. Der alte
Gulden hatte den Knaben, welcher im Sande nicht fortkom-
men konnte, unter dem recbten Arme.
Der Direktor stand in dem groBen Tore der Schenke und
fiillte es. Er war zum Direktor einer solchen Gesellschaft ge-
boren. Ein grofier, starker Mann, gut gespalten, wadenreich,
schenkelfest, mit einem ansehnlichen Bauche versehen; wenn
er bei hoher Leidenschaft daraufpaukte, so fuhren alle Weiber
zusammen und nahmen's fiir Pistolenschiisse. Auch hatte er
einen breiten .Rucken, auf dem Hanswursts Pritsche oft wie
eine Riibe zersprang, breite Schultern, starke Arme und Han-
dle. Wenn er sie beide zugleich erhob, so pfiff die Luft um ihn;
und wenn er seinen heroischen Schneller mit dem recbten
Absatze machte, erbebte die Erde unter ihm. Dabei ein star-
kes, voiles, schwarzbraunes Gesicht, worin auch der Kurz-
sichtigste auf hundert Schritte Maul, Nas 9 und Ohren wohl
voneinander unterschied; eine Stimme! — tote Ochsen zu er-
wecken; ein paar Augen! — in bestandigem Kreislaufe irrten
sie; man hatte glauben sollen, er sahe mit einem Blick das
ganze Firmament iiber sich, alles feste Land vor sich, alles
Wasser hinter sich und den Mittelpunkt der Erde unter sich.
Er aB aber oft Fisch fiir Fleisch und Kartoffeln fiir Pasteten.
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Schon wuBt' er die ganze Mordgeschichte von des Herrn
von Kallax' Hause; mit gravitatischer Gebarde aber nahm er
die Anineldung eines reisenden Virtuosen an und schritt zwei
und einen halben Schritt dem alten Gulden entgegen. Dieser
lieB vor Schreck seinen Sohn unter dem Arme weg fallen, da
der Direktor seinen heroischen Schneller applizierte und seine
fiirchterliche Stimme erhob wie folget:
Direktor: Hrrrnhum! Es kann dem hochseligen Schatten
des groBen, allweit und allweltberiihmten Eurrripidus nicht
gewaltiger Herz und Nieren fur Freude erschiittern, wann er
in den allweit und allweltberiihmten —
Gulden (mit einem tiefen Buckling und KratzfuB, daB der
Absatz den Hintern beriihrte): Ei, ganz gehorsamster Die-
ner!
Direktor (mit unverwandten starren Blick und furchterlich
einformig hohlen Ton ungestort f ortf ahrend) : Hrrrnhum!
Wenn er in den allweit und allweltberiihmten elysischen
Waldern seinen groBen und allweit und allweltberiihmten
Nachfolger Horrratius begegnet, als es mich anjetzt in Herz
und Nieren erfreut —
Gulden (wie oben): Ei, ganz gehorsamster Diener!
Direktor (wie oben): Hrrrnhum! Als es mich anjetzt in
Herz und Nieren erfreut, einen solchen groBen, allweit und
allweltberiihmten Mann •
Gulden (wie oben): Ei, ganz gehorsamster Diener!
Direktor (wie oben) : Einen solchen groBen, allweit und all-
weltberuhmten Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Wie ist Ihr Name? darf ich mich anders zu fragen erkiihnen.
Gulden (wie oben) : Ei, ganz gehorsamster Diener! IchheiBe
Michel Kasper Gulden, und dies ist - ei, komm doch hervor,
Heinchen, warum klemmst du dich so furchtsam an mich? —
dies ist mein Sohn, der es an Geschicklichkeit und Starke in
der Violine gewiB alien andern Virtuosen zuvortut. Wenn
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Sie hier eine Violine haben, soil er Hinen gleich was vor-
machen.
Direktor: Ich ersuche indessen Dieselben, sich die Muhe
zu nehmen, allhier in mein gegenwartiges Losement gef alligst
abzutreten und mir giitigst zu erkennen zu geben, womit ich die
Ehre haben mochte, Denenselben aufwarten zu konnen. Es
ist kein Musentempel - denn ach! o groBer Jupiter! (hier pfiff
die Luft um ihn) die Kunst geht jetzt nach Brot! Und auch
der groBte Mann (hier geschah ein pistolenahnlicher Bauch-
schlag, daB der alte Gulden zurtickfuhr und der Knabe einen
Schrei von sich gab), der groBte Mann muB sich fur zwei
Groschen ohrf eigen lassen. Auch kann ich nicht mit Neckarrr
und Ambrrrosius aufwarten, aber Bierrr und Brrranntwein
(hier geschah ein heroischer Schneller, daB die Splittern von
der Hausschwelle davonflogen), Bierrr und Brrranntwein sind
hier so gut, wie es die gegenwartige allgroBe Hitze nur er-
laubet, und steht Denenselben gar balde zu Diensten.
Gulden (wie oben): Ei,ganz gehorsamsterDiener! EinGlas
Bier, wenn ich gehorsamst bitten darf , um den Herrn nicht
zu verschmahen.
Nun traten sie in die Schenkstube, wo die gauze ehrbareGe-
sellschaft beisannnen war. Hanswurst schniirte eben der im
Hemde stehendenKolombinedasSchnurleib zu und amiisierte
sie dabei mit nicht gar verbliimten und nicht handlungslosen
Schweinigeleien iiber die schwarze Periicke, die ihr zur ellen-
hohen Coiffure diente; iiber ihre beiden vollen schwarzbraun
angestrichenen Backen und iiber die blaugebissenen Lippen.
Der Direktor unterhielt indessen den alten Gulden mit den
besondern hohen Verdiensten seiner Schauspieler, verglich sie
mit hundert griechischen und romischen Schauspielern, deren
Namen wohl noch in keines Menschen Ohr erschallt, und be-
schloB denn damit, daB das letzte Ziel seiner Wiinsche und
seines Bestrebens diese hohe unsterbliche Ehre sei, mit seiner
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Gesellschaft nach Paris zu gehen, die im Schutt und Moder
vergrabene Ehre der Deutschen zu retten und dann vor den
Toren zu Paris — wie jener Besenbinder vor Hamburg — aus-
zurufen: He, Paris! hast du Geld und Ver stand, hier isi
Ware!
Der alte Gulden, der von all dem nicht zehn Worte verstan-
den und so ganz gelassen dabei drei Kriige Bier ausgeleert,
empfohl sich dann und wurde von dem Herrn Direktor fur
sein williges Ohr mit solchem Eifer umarmet, daB ihm die
Luft ausging und ein schwarzer Schleier zwischen seinen
Augen und der Sonne schwebte.
Kaum waren sie aus der Scbenke, so ergriff der Knabe, der
wahrend der ganzen Szene keinen Laut von sich gegeben, sich
£ est an die Tiire geklemmt und mit starren Augen den Direk-
tor, den Hanswurst und die Kolombine angestaunt hatte, des
Vaters Hand und sagte: »Ei, Vater, das war auch man eine
dumme Kornodie.« Der Vater begriff jetzt, warum der sonst
so dreiste Junge so angstlich getan, und versicherte ihm, es
sei nur ein Besuch, aber keine Komodie gewesen.
Da sie nach dem Adelhofe zuriiekkamen, war's ebenEssens-
zeit, und der alte Herr von Kallax hatte schon yerordnet,
daB Gulden, sein Sohn und Rothbart in der Kuchenstube soil-
ten gespeist und getrankt werden. Gulden aber erMarte gleich,
daB er fxir seine Person mit seinem treuen Diener Rothbart
sehr gern unten und lieber als an der hochadlichen Tafel
essen wolle, seinen Sohn konne er aber so nicht erniedrigen
lassen, der wiirde dadurch seine ganze Virtuosenreputation
verlieren, der miiBte oben an des gnadigen Herrn Tische essen.
Der alte Herr von Kallax lachte iiber den tausendelementari-
schen Pfiff , wie er's nannte, und nahm den Jungen, der ihm so
schon beim ersten Anblickwohlgef alien hatte, an seinen Tisch.
Der Knabe zeigte sehr bald seinen guten Ansatz zum Sau-
fen, und es ward zur Lust beschlossen, ihn dick und voll sau-
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fen zu lassen. Dabei erzahlte der alte Herr von Kallax, zur
Bewunderung des Herrn Hofmeisters und zur herrlichen,
wiewohl verborgnen Freude seiner Junker und Frauleins, wie
er schon in seinem zehnten Jahre tapfer habe saufen konnen
und beim Weine seine sechs Pfeifen Tabak rauchen. Auch
hab 7 er da schon sehr gut gewufit, sich mit Madchen zu be-
helf en. Urn das Talent des Knaben auch hierin zu erforschen,
wurde ein nettes, zwolfjahriges Madchen hereingerufen, die
die gnadige Frauleins bediente, und dem Knaben wurde Frei-
heit gegeben, mit ihr zu schakern, wie er wollte. Darin war
er nun aber durch die Vorsorge seiner guten Mutter sehr
unerf ahren geblieben, und es kostete viel Miihe, ihn durch
Hiilfe des Herrn Hofmeisters dahin zu bringen, dafi er sie
kuBte. Es war das erste Mai in seinem Leben, dafi er den
Mund eines Madchens beruhrte; sein Gesicht gliihte heller als
der Burgunder in des Herrn von Kallax' Glase, seine Augen
funkelten, er zitterte am ganzen Leibe, auch wahrt' es dann
keine Viertelstunde, und er war so betrunken, dafi er sich
nicht mehr aufrecht halt en konnte.
So wurd' er zu seinem Vater hinuntergetragen, der den ab-
scheulichen Anblick aber nicht mit ansehn konnte, denn er
lag schon samt den alten Rothbart seit einer halben Stunde
hinterm Ofen und wufite von seinen Sinnen nicht. Die Be-
dienten — wie jederzeit Affen ihrer Herr en — hatten mit dem
Alten unten ebendie Komodie gespielt. Doch war bei ihnen
nur der erste Akt vorbei, der andre sollte angehen, sobald die
dicke Liese mit dem Aufscheuern in der Kiiche fertig ware,
unterdessen, hofften sie, sollte der alte Gulden den halben
Rausch abgeschlafen haben. Den Knaben legten sie indessen
in der dicken Liese Bette zum Kopfende.
Ich iibergehe die niedrige, abscheuliche Szene, die die Be-
dienten in der Nacht mit dem alten Gulden und der dicken
Liese veranstalteten und ausfuhrten, bis zu dem Augenblick,
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da der arme Knabe erwachte und sich neben seinem in
Schande und Laster versunkenen Vater liegen sahe. - Wehe
dir, armer Knabe, deine Unscbuld ist dahin! ist durcb deinen
eigenen Vater getotet!
Ich will von dem festlichen Geburtstage des Herrn vonKal-
lax weiter nichts beriihren als die Komodie, die den Abend
gespielt wurde, weil es das erste Scbauspiel war, so unser
Knabe sah. Es war eine komische Tragodie oder vielmehr ein
riihrendes heroisches Lustspiel. Die handelnden Personen wa-
ren: der Kaiser •, der Erbprinz, eine gefangene Prinzessin, die
sich am Hof e des Kaisers aufhielt, der Hofmarschall des Kai-
sers und der Hanswurst. Die Szene war im Walde, wo der
Kaiser mit Kron und Szepter und die iibrigen mit denen ihnen
zukommenden Attributen spazierengingen.
Der Kaiser liebte die schone Prinzessin, der Erbprinz aucb,
und nachdem sie einige Reden ausgestofien iiber die kuhle,
gar lieblich blasende Luft, iiber den bliimerantblauen und
eierweifien Himmel, iiber die schweiBtreibende und durster-
weckende Sonne, iiber den allem Vieh. w^obltuenden Schatten,
aucb der Kaiser — den der Direktor aus Leibeskraften vor-
stellte - seinem Sohn einige Mark und Bein durchdringende
Tyrannenblicke gegeben, dieser aber nichts destoweniger mit
den glanzendsten Marzkaterblicken in die allerschonste aller
Prinzessinnen hineingeblickt hatte, so verloren sich die Prin-
zessin, der Erbprinz und der Hofmarschall im dicken Ge-
biische, und die beiden Zuriickgebliebenen fanden, daB sie ge-
meinschaftlich entflohen waren.
Nun hielten der Kaiser und Hanswurst ihren Rat, wie sie
sie fingen und straiten. Es ward beschlossen, daB, wer wie-
derbekommen wiirde, sollte den Kopf verlieren. Hanswurst,
der in ihrer gegenwartigen Welt das einzige Geschopf aufier
dem Kaiser war, muJBte das Scharfrichteramt iibernehmen,
und es wurden ihm zehn Taler f xir jeden Kopf zugestanden.
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Der erste, der sich finden lieB, war der Hofmarschall, er
bekannte ohne viele Schwierigkeit, dem Prinzen in der Ent-
fiihrung der Prinzessin behiilflich gewesen zu sein, und be-
vri.es mit groBer Impertinenz aus dem Abe und Einmaleins
und alien Regeln des Rechts und der Politik, daB er so hatte
verf ahren miissen, zweif elte schlieBlich gar nicht an der iiber-
groBen Gnade des Kaisers, die ihm doch eigentlich auf die
Beine geholfen und hinten ausschlagen gelernt hatte. Aber
der Kaiser ergrimmte gar sehr, setzte die Luft gar machtig in
Bewegung, bearbeitete seinen Bauch gar grimmiglich, er-
schiitterte die Erde gar furchterlich und donnerte dem vor
ihm stehenden schnaufenden und speichelleckenden und ver-
schluckenden Sunder sein Todesurteil. Auch sollt' es gleich
auf der Stelle vollzogen werden.
Da sank dem kleinen Held, der vorher patzig und beiBig
"wie ein f eiger Stallhund getan, der Mut, er fiel nieder auf die
Knie und bekannte vor Gott und seinem Herrn seine Siinden,
wie er von jeher ein f eiger, hochmiitiger, gotteslasterlicher
und undankbarer Schurke gewesen, um von der Welt fur et-
was gehalten zu werden. Er wolle nun aber sein Leben bes-
sern und statt des vielen Fleisches Kartoff ein fressen, statt des
Voltaire den Cubach lesen. Da aber der Kaiser abermals er-
grimmte, hub der Kniende mit graBlichem Geheul an, ein
geistlich Lied zu singen, woruber dann Hanswurst, der mit
dem Wetzen seines Sabels beschaftigt war, so erschrak, daB
er wohl zehn Schritt zuriicksprang, denn er hielt es furs Bel-
len eines aus dem Busch hervorspringenden Hundes. Auf den
Wink des Kaisers springt er aber wieder vor und will auf den
Kopf des knienden Hofmarschalls zuschlagen, indem erscheint
aber der Prinz und ruft: »Bitte mit der Exekution nicht so
gar schleunig zu verf ahren, denn wenn dieser mein treuer
Gefahrte stirbt, so sterb ich auch.«
GroBer Kampf des Kaisers, der sich in heftigen Bauch-
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sclimerzen und wiirgendem Halsweh gar deutlich auBert : sein
einziger Sohn! sein Thronf olger ! — aber auch sein Nebenbuh-
ler, ein bereits Verurteilter. — »Wbhl, er fahre dahin!« Der
Prinz kniet zur Linken des Hofmarscballs ; der Hof marsehall
weiB aber ebensogut zu sterben, als er zu leben wuBte, und
komplimentiert ihn auf den Knien zur rechten Hand. Er be-
teuerte dabei, solang' er sein Amt verwaltete, es nie gelitten
zu haben, daB ein Adlicher zur Linken eines Biirgerlichen vor
Gott gestanden hatte, sicb auch selbst nie der Siinde teilbaftig
gemaeht, zur Linken eines Biirgerlichen ein Faterunser zu
beten, und sollte itzt noch am Rande des Grabes den Greuel
sehen, daB ein Prinz zu seiner Linken stande. »Nein, bei
Gott nicht!« rief er aus und rutschte auf den Knien zur lin-
ken Hand bin.
Hanswurst w;etzt wieder sein Schwert, will nach Standes-
gebtibr beim Prinzen anfangen, da erscbeint aber die Prin-
zessin nait jamnierlicben Gesehrei: »Auweh, herrjemine,
ivann dieser stirbt z so sterb'ich auch!«, und so wirft sie sicb
neben dem Prinzen. Der Hofmarschall will zuspringen, sein
Schnupftuch unterzuspreiten, wird aber durch einen scharf-
richterlichen Kopfscblag des Hansw^ursts in Positur erbalten.
Hanswurst, der nun die Liebe und Reue des Kaisers fiirchtet
und doch nicht gerne dreiBig Taler verlieren will, wetzt
schneller sein Scbwert und will schon auf die Prinzessin los-
schlagen; allein der Kaiser stofit ihn zuriick, sticbt den Szepter
in die Erde, nimmt die Krone ab und setzt sie auf den Szepter,
kniet neben der Prinzessin nieder und sagt, mit Augen des
sterbenden, abgestochenen Kalbes sie anblickend: »Nein,
ivann diese stirbt, so sterV ich auch.«
Hanswurst: »Jucbbei, gar voile vierzig Taler! Nun lustig
zu Werke! — Aber Narre, wenn der da stirbt (auf den Kaiser
zeigend), wer bezahlt mich dann? « (Er sticbt semen
Sabel neben dem Szepter in die Erde, setzt seinen runden Hut
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drauf, kniet neben dem Kaiser nieder und sagt seufzend:)
»Nein, luenn dieser stirbt, so sterb' ich auch!« — Die Schau-
spieler verneigten sich auf den Knien, und der Vorhang f allt
zu. Ende des Trauerspiels.
Nach dem Trauerspiele produzierte sich unser Knabe mit
seiner Geige und zeigte in einem Solo alle seine Tausend-
kunste und Hexereien. Das letzte Stuck war eine Menuett
mit unzahligen Variationen, die eine Nachahmung aller itzt
gebrauchlichen musikalischen Instrumente, nur nicht der
Singstimme enthielt und der Sprache und Zeichen aller Tiere
auf dem Felde, nur nicht die Sprache menschlicher Empfin-
dungen und Leidenschaften. Bald horte man eine kleine Kin-
derpfeife, bald eine Querpfeife, bald eine Rohrflote, bald
einen Dudelsack, bald die Kniegeige, bald ein Paar Wald-
horner, bald Trompeten und hundert andre Dinge mehr, nur
keine Geige; bald horte man wieder das Geschrei des Esels,
des krahenden Hahns, das Mauen der Katze, das Wiehern des
Pf erdes und tausend naturmalende Tone, nur keinen Ton der
Liebe.
Aber dem alten Herrn von Kallax und ubrigen Anwesen-
den durchdrang es Mark und Bein, wohl hundertmal vergaB
er sein Podagra, wollte aufspringen und >die kleine Schlag-
blitzkrote fur Liebe zu Quark driicken<. Allgemein wurde der
Knabe am Ende des Stiicks beklatscht und bekiifit. Selbst die
alte gnadige Frau, die erst beim letzten Bogenstrich in den
Saal trat, konnte sich an den runden roten Backen des Kna-
bens nicht satt kussen.
Darauf folgte der Gesang von denen gnadigen Fraulein
des Hauses. Sie hatten im Hintergrunde des Theaters das
Bildnis ihres Vaters hingehangen, worauf er auBerst martia-
lisch und eisenfresserisch als Husarenrittmeister gemalt war,
und da der Vorhang aufgezogen wurde, standen die Kinder
unter dem Bilde und sangen mit graBlichen Stimmen, das
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Bild mit wohleingebleuter Zartlicbkeit anblickend, das be-
kannte Lied :
O scbonstes Angesieht
Voll himmlisch boiler Zier,
LaB deiner Sternen Licbt
Inbriinstig strahlen mir usw.
Darauf wurde unser Knabe, den man erst auf der Erde
stehend zuwenig hatte seben konnen, auf einen Tiscb gestellt,
und so spielte er, >das tausendelementarische Blitzhagel-
Ding<, wie es der Alte nannte, noch einmal. Alles wollte fiir
Freuden aus der Haut f ahren, und der alte Kallax scbwur bei
alien Teufeln und alien Heiligen, der Junge sollte beute
abend seine letzte Bouteille Champagner baben.
Tages darauf setzten unsre Reisende ibren Weg fort und
zogen auf Anraten des Herrn von Kallax gen Danzig bin, urn
da den groBen Jahrmarkt mitzunebmen. Zwei Stunden vor
Danzig war's, wo sie in einem kleinen, von der HeerstraBe
abgelegenen Dorf e am vierten Tage ibrer Wandersebaft Mit-
tag balten wollten und, da alles auf 'm Felde war, nicbts als
trocknes Brot und saures Bier bekommen konnten. Des
granite sicb der alte Gulden so berzlicb, daB die bellen Tra-
nen iiber die flucbenden Lippen flossen.
Da er so voll verzweifelnden Hungers, auf beiden Armen
gestiitzt, am Fenster stebt, die Nase gegen die Fensterscbeibe
gequetscht, mit den obern Zahnen ubers Glas binfabrend,
sieht er auf einmal aus dem gegenuberstebenden Pfarrbause
ein altes, bageres Weib berausschreien: »Wer Lost hatt to aten
und to drinken, dei komm her.«
Gulden fubr mit dem Kopf gegen die Fensterscbeiben, daB
zwei Scbeiben sprangen, als wollt' er gerade durcbs Fenster
ins Pfarrbaus hinein; besann sich dann aber wieder, raffte
seinen Knaben zusammen, scbrie nacb dem alten Rothbart,
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der unterm Schecken kruinm lag, und so stiirzten sie nach dem
Pfarrhause. Gulden konnte sich nicht enthalten, auf'm Wege
uberlaut auszuruf en : »Das ist dock ivahr und wahrhaftig wahr :
Wer noch Menschenliebe und Freigebigkeit in der Welt flnden
will, der such' sie bei den Geistlichen.«
Nun muB ich meinenLesern mit demPfarrerund desPfarr-
hauses Geschichte dieses Tages bekannt machen. Der Pfarrer
dieses Dorfs war ehedem in Danzig Kinderlehrer, hatte da
unter den reichen Biirgern der Stadt taglich Freitische gehabt
und so seinen Leib an Fleisch und Wein gewohnt. Er hatte
zu den Geburtstagen, Namenstagen, Hochzeit-, Tauf- und
Sterbetagen seiner Speisepatrone und ihrer ganzen Familie
jederzeit gereimte Verse gemacht, und das erwarb ihm dann
ein Amtchen. Die Pfarre war aber klein und warf nicht tag-
lich Fleisch und Wein ab, deshalb richtete der Pfarrer seine
Diat so ein, daB er taglich bei guter Zeit nach Danzig ging
und sich da bei eineru seiner ehemaligen Speisepatrone den
Tag wohlschmecken lieB.
Er hatte die gute Gabe, kleine Historchen sehr weitlaufig
zu erzahlen, und wuBte es immer so zu machen, daB jede Pe-
riode seiner Rede mit dem Titel des Hausherrn, als : >strenge
Herrlichkeit, namhafte Weisheit^ gestrenger Herr, hochgeehr-
ter Herr< u. dgl. anfing und schloB. Das gefiel den guten Leut-
chen, und sie gaben ihm da zu loffeln und zu bechern, daB er
voll wurde.
Fur Anstrengung seines Kopf s hatte er sich immer sorgf al-
tig gehiitet, er konnte also etwas vertragen und fand jeden
Abend richtig den Weg nach seinem Dorfe. Beim Abschied
pflegte er dann immer tiefgebiickt und mit halber weiner-
licher Stimme zu sagen: »Wann uterden dann Eure strenge
Herrlichkeiten einmal ihren umuiirdigen Dieher die hohe
Ehre erzeigen, ihn in seiner schlechten Pf arret ei zu besuchen
und sich da gef alien lassen, ivas der Herr gibt?« Jeder wuBte
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aber, daB er ilin nie zu Hause f and, und lieB sich also die Lust,
zu ihm liinauszuf ahren, nicht anf echten.
Des Sonntags war er indessen doch der Predigt wegen ge-
zwungen, zu Hause zu bleiben, den hatte er aber Gott zu
Ehren zu einem Fasttage und seinem Mag en zur Reinigung,
zu einer gelinden Purganz bestimmt. Seine ganze Haushal-
tung bestand daher auch nur aus einem alten, hagern Weibe,
die nun scbon funfzebn Jahre bei ibm von Gebet und kalter
Kiicbe lebte; sonntags kocbte sie sicb denn doch den dicken
Kaffee auf, von dem der Pf arrer die Woche liber getrunken.
Da war denn auch Raucli in des Pf arrers Schornsteine.
Nun waren aber zwei Kaufleute aus Danzig, die die lustige
Lebensart des Pfarrers kannten, auf den Einfall gekommen,
ihn einmal so friih zu iiberraschen, daB sie ihn notwendig
noch zu Hause finden muBten. Um aber doch f iir den Schreck,
den sie dem Pf arrer abjagen wollten, nicht selbst in Hungers -
not zu geraten, nahmen sie mit sich, was auf einen Tag fur
sie und ihren Bedienten und Kutscher zur Leibesnahrung und
Notdurft gehorte, als da sind: ein gebratenes Kalbsviertel,
eine kalte Pastete, einen westfalischen Schinken, ein Stuck
Hamburger gerauchert Pokelfleisch, ein Paar geraucherte
Ochsenzungen, zwei braunschweigische Mettwiirste, einen
ansehnlichen Vorrat an Butter und hollandischen, englischen
und limburger Kase, eine Mandeltorte, drei schwarze Brote,
zwolf weiBe; sechs Bouteillen Biieinwein, sechs Bouteil-
len roten Wein, sechs Bouteillen englisch Bier, ein Flasch-
chen Ratafia, auf s f ette Essen zu setzen, ein Flaschchen Gold-
wasser f iir die bose Morgenluft und Pomeranzenessenz f iir die
bose Abendluft; daneben hinlanglichen Vorrat an Kaffee und
Zucker, kleine Zwiebacken und Kringeln und dergleichen
mehr.
So fuhren sie mit Aufgang der Sonne aus der Stadt dem
Dorfe zu. Auf m Felde begegnen sie noch einen Bekannten,
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der ein sehr lustiger, spaBhafter Mann ist, der da niit der
Flinte nach Vogeln ausgeht; den bereden sie, trotz seines na-
tiirlichen Abscheues fiir die leere Speisekammer und den lee-
ren Keller des Pfarrers, mitzufahren und sich fiir heute mit
ihrem geringen Mundvorrat begniigen zu lassen. Er steigt
ein, und nun geht's im gestreckten Trab gerade aufs Dorf zu.
Gleich, wenn man ins Dorf kommt, f ahrt man urn die Ecke
der Kirchhofmauer herum und so in gerader Linie aufs Pf arr-
haus zu. Das Haus hat in seiner Mitte die Ture nach dem
Kirchhofe und eine ihr gegeniiberstehende nach dem Garten
hintenhinaus. Beide Turen standen off en, so daJ3 man gerade
durchs Haus den schmalen Garten lang sah. Der Pf arrer, eben
im Begriff , seine Perucke aufzusetzen, wird die Antrabenden
gewahr, schlagt seinen engen Schlafrock um die Beine und so,
hast du nicht gesehn, in gestreckten Galopp zur Hintertiir
hinaus, den Garten lang und am Ende des Gartens in ein klei-
nes bretternes Hauschen hinein, dessen er sich taglich, aus
Danzig kommend, zu bedienen pflegte, die Tiirklinke und
Biegel hinter sich zu.
Diesen Lauf des Pf arrers hatte im Wagen niemand als der
lustige Mann bemerkt, den die Aufmerksamkeit auf die sin-
gende Vogel, die er leider im Fahren nicht schieBen konnte,
wach erhalten; die andern beiden Herren waren der vor ihnen
aufgehenden Sonne wegen gezwungen, die Augen zuzuma-
chen, und so allmahlich eingeschlafen. Jener behielt's auch
fiir sich. Beim Stillhalten des Wagens erwachen sie, steigen
aus und stoBen gleich an der Tiire auf die alte, hagere, fiir
Hunger und Angst zahnklappernde Hausmagd.
Magd; Ach du mein allerschonstes Herr Jemecke, wie ward
seek dei lewe Herr Pf arrer schwahr argern! Es ock man den
lichten Oogenblick wechgegangen ; weeren Sei doch man en
kleen baten freeger gekamen!
Kaufmann A. (fiinf FuB hoch, vier FuB breit, kurzgespal-
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ten, sachte vor sich her schreitend, die rechte Hand auf'm
Stockknopf , einen schlaf enden Mops vorstellend, die linke aus-
gespreutet auf 'm Bauch, den Kop£ f est in den Nacken geprefit,
die lange Nase mit Gewalt vorausgeschickt, die grofien run-
den Augen starr vor sich, den Mund saugend und schlurf end
hin und her bewegt -): Na, na, - er wird ja wohl - bald —
wiederkommen.
Magd: Ojemine, nee! Hei het hiede gahr schlach schwahr
f ohl to done enr Stadt.
Kaufmann B. (dem ersten an Gestalt ziemlich ahnlich bis
auf die kleinen langlichen Augen, gequetschter, tief einge-
driickten Nase und die weit hervorragenden, von Zahnfleisch
entbloBten Zahne): Ei 3 a, da helft nun keine Herzmutter;
nun sind wir einmal da, nun wollen wir auch dableiben.
Magd; Ach du mein allerschonster Herr Jemecke, wenn
man nich dei lewe Herr Pfarrer alle, alle Schlatels metge-
nahme had; es ock nich een Kruhmen to at en onn to drinken
buten. Alles verschlahten, alles verschlahten!
Kaufmann A. : Na, na, laBt das man gut sein, Mutterchen,
davor haben wir dann schon, im Fall der Not, da Gott fur sei,
gesorgt. Johann! he, Johann! Hort denn die Schlafmiitze
nicht? Johann! Ha — ha — ha! — Da kommt 'r hergewat-
schelt - die dicke Sau! — wie er aussieht! - sicher is der Mehl-
sack im Schlaf von Wagen gerollt! — Ja, reib du dir man die
Augen, — du Schlafmiitze du, — sogar im Fahren schlaft der
Hrm! — (in sich blickend) Na, pack du man ab unsern
kleinen Mundvorrat und bring' ihn man immer so sachte her-
ein: es ist mir so schon ganz quablich urns Herz.
Magd (den langen Hals vorstreckend, die roten Augen gie-
rig aufreiBend und starr in den Wagen kuckend, beide Hande
vor sich ausspreutend, in sich): Ei, ei! (Der Kalbsbraten
kommt hervor. Etwas lauter) O herrje! (Der Schinken. Laut)
L i, herrjemine! (Die Pastete. Etwas hoher mit schwerem
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Atem) Ach du mein allerschonster Herr Jemecke! (Die Man-
deltorte. Noch hoher) Dat di! ... (Der Bouteillenkorb. Recht
hoch und aus voller Brust) Dat di de Schlach onn de
Schwollst ...
Johann: Na, Mutter, na, so greift doch mit an!
Magd (starr auf der Stelle bleibend, mit kurzem Atem,
immer hoher, zuletzt fast jauchzend): Oje ja, ja, ja, ja!
Kaufmann C. (ein kleiner, trockner,windspielricher Mann,
mit einer feinen, durchdringenden Stimme und gelaufigen
Zunge. Hat sich bis itzt im Garten umgesehen) : He, Mutter,
gebt einmal 'n Tisch raus und 'n paar Stiihle; nur hierher in
7 n Garten. Wo ist's denn hier wohl am besten? Schatten gibt's
eben nicht viel; he, hier, hier vor dem Hauschen, 'n hiibscher
griiner Grasplatz, so, hierher, Mutter, hierher! (Der Tisch
und die Stiihle werden gerade vor die Ture des Hauschens
gesetzt, in welchem der Pfarrer verschlossen AngstschweiB
schwitzt.)
Kaufmann A. : Gib 'nmal den Ratafia, Johann.
Kaufmann B.; Mir doch lieber ein Schnapschen Goldwas-
ser. Was geliebt denn Ihnen, mein wertester Herr C? 1st
auch noch Pomeranzenessenz da.
Kaufmann C: Meinetwegen davon: daB doch alles dran-
kommt.
Kaufmann B.: Ei, ei, wir konnen uns schon Zeit lassen.
Unser Herr Pfarrer wird so wohl erst in der Kuhlung kom-
men.
Kaufmann C: Potz Stern! das ist ein ganz exzellenter Li-
kor; da wiinscht' ich wohl unserm guten Pfarrer ein Glas-
chen, fiir seinen schwachen Magen.
Kaufmann A.; Schwachen Magen? Proste Mahlzeit, der
nimmt's mit uns alien auf. Sie sollten ihn einmal bei mir fres-
sen sehn, das ist seinen baren Speziestaler wert, den Bauch-
pfaffen fressen zu sehen. Und zechen kann er, potz Velten,
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das geht noch iiber unsern Ratsmusikanten Jobsen; und den
kenn£n Sie doch? Na, wo bleibt denn das Essen?
Kaufmann B. : Berxihr dich mal, Johann.
Ich mag die Szene nicht weiter ausmalen ; man denke sich
aber den hungrigen, gierigen, gefraBigen, gesoffigen Pfarrer
bei Hundstagshitze in dem engen Ha.usch.en versperrt und die
Essenden und Trinkenden laut vor dem Hauschen, wie der
lustige Mann, den Pfarrer immer mehr zu martern, alles Es-
sen und Getranke so herrlich findet, wie er es noch in seinem
ganzen Leben nicht genossen: Der Kalbsbraten, das ist ein
wahrhaftes gemastetes Milchkalb, das Messer verliert sich im
Fett; die Pastete ist das Nonplustjltra der edlenKochkunst;
der Schinken mufi vorher, eh er gerauchert worden, in Bur-
gunder gesotten sein, so pikant und zart ; die Wurst und Zunge
miissen im Rauche von Zedernholz und Aloe gehangen ha-
ben, es ist ein gewisses Etwas dran, was sich gar nicht aus-
druckenlafit,daswahrhafte jeintesaisquoi derFranzosen; die
Mandeltorte zergeht auf der Zunge. Der Wein ubertrifft nun
gar alien Ausdruck, da hort man nur schmecken, lecken,
schlurfen, schmatzen, saugen, achzen, lechzen, jauchzen —
Auch trinkt der lustige Mann den andern brav zu, damit
nichts iibrigbleibe. Nach vier Stunden langer Zehrung aber
ist alles voll bis an den Hals : Herr und Diener und Magd sit-
zen fest auf ihren Stiihlen und keuchen. C. will aber durch-
aus nicht, daB die noch ganz ansehnlichen Uberbleibsel in den
Rachen des liisternen Pf arrers kommen sollten, und schickte
die Magd aus, alles, was essen will, zusammenzurufen. Dies
war nun der freudige Ruf , der unsern alten Gulden aus seiner
Verzweiflung und den alten Rothbart aus seiner philosophi-
schen Lage riB : Sie waren die einzigen, die dem Ruf e f olgten,
denn die Einwohner des Dorfs fiihrten ihren Herrn Pfarrer
zu sehr im Herzen, als daB die Versuchung etwas uber sie
vermocht hatte.
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Mit ungestiimer Begierde fielen Gulden Vater und Sohn,
Rothbart und der in Leid und Freud getreue Kallax liber die
Brosamen von des Herrn Tische her und hatten sehr bald
alles bis auf die Knoclien verzehrt. Unterdessen diese sich ih-
rer FreBbegierde iiberlassen, sinnen die Herren A., B., C. auf
irgendeine angenehme V erlustierung. Dies und jenes war
schon vorgeschlagen, aber der zu starken Bewegung wegen
wieder verworf en. Endlich :
Kaufmann C: Nach'm Ziel wollen wir schieBen.
Kaufmann A.: Topp! Wo ist die Flinte und Schrot?
Kaufmann C: Kreide, Mutter, Kreide!
Kaufmann B.: Recht so, recht so. (Nimmt die Flinte und
ladet.)
Kaufmann C. : Wo ist denn nun hier das beste Ziel zu neh-
men?
Magd (mit Kreide): Hier, hochgeehrter gestrenger Herr,
hier es Kried.
Kaufmann C. (einen groBen Zirkel an der Tiire des Haus-
chens, worinnen der Pf arrer sitzt, malend) : Hier geht's wohl
zum best en.
Kaufmann A.: Ei freilich, freilich. Paff ! (er schieBt.)
Magd (die Augen starr auf s Hauschen gerichtet) : Ach herr-
jemine, herrjemine!
Kaufmann B. (von neuem ladend) : Was will die alte Hexe ?
Magd (die Hande ringend) : Ach herrje,lierrje,unser lewer,
trutster Herr Pf arrer!
Kaufmann B. (schieBt): Paff! Das soil dem alten Bretter-
kasten nichts schaden. Nun, Herr C, treffen Sie besser: Ein
Schelm macht's besser, als er's kann. Wollen doch sehen, wie's
mit der Junggesellenschaft steht!
Pf arrer (der sich solange in die Ecke des Hauschens ge-
klemmt, nun aber nicht langer sein Leben oder doch seine
Lenden in Gefahr sehen kann, springt, sich die Augen rei-
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bend, heraus, da G. eben im Ansclilage ist): Verzeihen die
hochgeehrten gestrengen JHerren, ich weiB nicht, wie mir ge-
schehen! Hab' ich geschlafen? Haben mich Schiisse geweckt?
Hat Gott Wunder an mir getan?
Man denke sich nun das ausgelassene Gelachter, nachdem
die Herren A. und B. durch Herrn G. aus ihrem fetten Er-
staunen geweckt waren. Unser Knabe, der gleich bei Erblik-
kung der groBen Periicke auf den Pf arrer zugelauf en war, urn
ihm die Hand zu kiissen, von diesem aber in der Angst seiner
Seele nicht bemerkt worden, war der einzige, der nicht aus
vollem Halse lachte; er stand mit offnem Munde da, sahe
die andern alle abwechselnd an und lachte so mit, weil sie alle
ohn Aufhoren lachten.
Nun erzahlte C. in Gegenwart des Pfarrers die ganze Ge-
schichte und notigte diesem manches heilige, bemitleidende,
christlich-duldende und verzeihende Lacheln ab; wie's aber
daran kam, daB er die anwesenden noch nachkauenden Gaste
habe zusammenrufen lassen, damit auch kein Bissen fur den
Herrn Pfarrer iibrigbliebe, trat diesem das Blut machtiglich
zu Kopfe, und er begann den ganzen SpaB iibelnehmen zu
wollen; wurde aber bald wieder besanftigt und getrostet, da
man ihm versprach, ihn sogleich mit nach der Stadt zu neh-
men unji recht hoch zu traktieren. Ilerr G. sollte den Abend
dabei sein und den Frauen und Kindern des Hauses die Ge-
schichte des heutigen Tages zum besten geben. Der Pfarrer
gab seine christliche Einwilligung dazu, kleidete sich an und
fuhr mit nach Danzig.
Gulden zog mit seiner Gesellschaft gesattigt und iiberaus
lustig ab. Der Knab' aber konnte lange nicht aus seinem Er-
staunen kommen, wie man einen Pfarrer, den ihn seine Mut-
ter immer als einen heiligen Mann Gottes vorgestellt, so zum
Narren haben konnte. Rothbart, der erst gar nicht so recht an
den Ruf aus des Pfarrers Hause hatte glauben woJlen, konnte
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sich nicht enthalten, iiberlaut auszurufen: »Potz Pfaff und
der Teufel! Unter hundert auch kaum einer, der's redlich
meint und darnach tut!«
Man denke sich's, was dabei im Herzen des Knaben ver-
ging: mit was fur Augen er die Geistlichen nun anfing anzu-
sehen.
Den Nachmittag wollten sie noch ein Kloster ohnweitjCterc-
zig erreichen, wohin sie von dem Direktor der vorerwahnten
Komodiantenbande Empf ehlungen an den Pater Kuchenmei-
ster des Klosters hatten. Dieser war ehedem als Tausend-
kiinstler auf der Trompete mit der Bande herumgezogen und
hatte sich vor einigen Jahren bei dem Abt des Klosters, Seiner
Exzellenz dem Herrn Grafen von ***, mit seiner Trompete
produzieret. Es war damals eben der Pater Trompeter von ih-
rem Chor gestorben, und da dieser Reisende die Stelle sehr
gut fiillen konnte, hatten sie ihn zur Anderung seiner Reli-
gion und zum geistlichen Stande beredet. Durch vorziigliches
Talent im Fressen und Saufen hatte er die besondere Gnade
Seiner Exzellenz und durch diese das sehr eintragliche Amt
des Pater Kiichenmeisters erhalten.
Gulden wuBte das alles und war nicht wenig wegen Ver-
fiihrung seines Knaben besorgt. Man hatte ihm aber auch ge-
sagt, der Abt sei ein sehr freigebiger Mann fur alles, was ihn
kiitzelt, und das iiberwaltigte dann seine Gewissensskrupel.
Er unterlieB indessen nichts, den Knaben fur Verfiihrung
zu sichern: malte ihm die katholischen Geistlichen als einge-
fleischte Teufel ab, die in der Welt umhergingen, Menschen-
seelen zu verfiihren und die Holle damit zu versorgen; be-
schwur's ihm bei alien Teufeln, daB alle Katholiken ewig
in der Holle brennen miiBten, und tausend dergleichen ab-
scheuliche Dinge mehr. Der Knabe, der des Vaters schonen
Ausruf iiber die lutherische Geistlichen und die drauf fol-
gende Geschichte noch sehr warm im Herzen hatte, antwor-
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tete weiter nichts als: »Das werd' ich meiner lieben Mutter
nie zu Leide tun, da0 ich 'da in so'n Kloster bliebe.«
Eben, da sie im Kloster ankamen, es war so nach f iinf Ulir
nachmittags, brachten zwei baumstarke Geistliche den so-
eben gesattigten Abt, unter den Armen gef xihrt oder vielmehr
getragen, die groBe SchloBtreppe herunter; unten stand ein
verschmitzter Stalljunge mit dem Reitpferde Seiner Exzel-
lenz, so Hochdieselben eben besteigen wollten, und daneben
ein dritter hochgliihender Geistlicher mit einem groBen gold-
nen Pokal, den Seine Exzellenz zu Pferde sitzend noch auszu-
leeren pflegten. Indem Seine Exzellenz mit heftigen Bewe-
gungen im Ober- und Unterleibe aufsteigen, sagen Hochdie-
selben zum Stallkneclat, ein Junge, sects Spannen hoch, das
Pf erd an den Hiif ten kutzelnd : »Hast du mein liebes Lieschen
auch gut gefiittert?«
Reitknecht: O ja, Euer Exzellenz, es liatte sich schon lange
satt gegessen, da Euer Exzellenz noch fraBen.
Der Herr Abt, der sich seit funfundzwanzig seelenruhigen
Jahren so dick und dumm gefressen und gesoffen, daB man
ihn lang zwicken und kneipen konnte, eh er's fiihlte, lachte,
daB ihm der Bauch und der Gaul unter ihm schutterte iiber
den Sprachfehler des dummen Bauerliimmels.
Gulden, der ihm. nun schon ziemlich nah' ist, nimmt dieses
bauchschiitternde Gelachter fiir ein erwiinschtes Zeichen des
Gef aliens an ihm und seinem Zuge, springt von seinem drug-
lichten Schecken ab, umfafit den vierten Teil der Lende Sei-
ner Exzellenz des Herr Abt und bittet um gnadige Protek-
tion. Dieser halt ihn fiir einen Landmann aus seinem Gebiete,
der sich iiber einen eben neu auf gelegten Scharwerkstag furs
Kloster beschweren will, und briillt: »Ihr Hollenhunde ihr,
ich will euch geiBeln lassen, wenn ihr mich f erner in meiner
Ruhe stort! Geht zum Pater Kiichenmeister ; kann euch der
auch nicht helfen, so kann er euch doch eins blasen, hahaha!«
54
Gulden beruft sich auf seine Empfehlung an den Pater
Kiichenmeister, und nach langem Hinundherreden gelingt's
ihm, sich endlich kenntbar zu machen. Der Abt befielilt so-
gleich, fur diesen Abend Musik zu veranstalten, macht sei-
nen gewohnlichen Nachmittagsritt, von dem er immer den
schwarzen Rock sehr voller Federn zuriickbrachte, etwas kxir-
zer und ist urn sieben Uhr wieder da.
Unsre Reisende stehen nun schon in der Ecke des Saals in
volligem Putz da, die Geigen unterm linken Arm, den Bogen
in der rechten Hand. Der alte Gulden stiirzt, seinen Jungen
mit fortziehend, dem Abt entgegen und kiiBt demiitigst den
Rockzipfel Seiner Exzellenz, indem er mit der linken Hand
den Jungen an das rechte Knie des Abts anpreBt. Vergeblich
bemiiht sich der keuchende Abt, iiber seinen Bauch wegzu-
sehen, um den Knaben unter diesem zu erblicken, noch ver-
geblicher, sich zu biicken, um den Knaben aufzurichten. Ein
christkatholischer Blick und Schnarcher setzt aber den nach
Luft schnappenden und schweiBtrocknenden Pater Prior in
fast merkliche Bewegung, er hebt den Jungen mit Hiilfe des
alten Gulden, der druber seine Geige f allenlaBt, auf und stellt
ihn vor dem Abt auf ein em Stuhl hin.
Abt: Bei meinerSeei', ein hubs cher Jung! (ihm mit geteiltem
Zeige- und Mittelfinger leise uber die Backen nach dem Kinn
hinabfahrend) ein schoner Jung! Wie alt bist du,Kerlchen?
Knabe (schnell und frei) : El . . .
Gulden (ihm noch schneller in die Rede f allend) : Sieben
Jahr, Euer Durchlaucht, eben im vorigen Monat sieben Jahr
gewesen und niacht Wunder auf seiner Geige.
Abt (den Knaben bei der Hand haltend und ihm mit der
verkehrten Hand sanft in die hohle Hand streichelnd) : Hast
auch ein hubsch Patschgen dazu; (zum Pater Prior mit glan-
zenden Augen und weiten, schlagenden Naslochern) ein recht
weiches, warmes Patschgen. Liistet's dir nicht, alter Bock?
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Pater Prior (sich gleiBnerisch verneigend und aus den hoh-
len Augen verstohlen hinaufblickend) : Der Herr geht vor,
der Diener folgt.
Abt; Alter Schalk! (Zum Jungen, ihm sanft in die Lippen
kneipend) Nun laB emal horen, was du kannst. (Zum Pater
Prior in die Ohren sprechend, sich die Lippen leckend, mit
der rechten Hand in den Busen fahrend, mit der Linken
Der Pater Prior saugt dabei am Daumen seiner linken Hand
und blickt starr seinen ausgestreckten kleinen Finger an.)
Der Junge spielt, findet groBen Beifall, fast bei jedem Takt
erschallt ein lautes Bravo, nach jedem Stuck lautes Handege-
klatsch; er muB den Abend beim Essen neben dem Abt sitzen,
soil auch in des Abts Zimmer schlaf en, da widersetzt sich aber
der Alte, der nun schon nichts gewisser als Religionsverande-
rung befurchtet, aus Leibeskraften, bittet mit Tranen, ihm
sein Kaptalchen nicht zu entreiBen, schwort bei alien Teuf eln,
er konne kein Auge zutun, wenn der Junge nicht bei ihm
ware. Das hatte Seine Exzellenz nun eben wenig gekiimmert,
aber Hochdieselben scheuten sich denn doch, langer darauf
zu bestehen,und befahlen,den Jungen morgen vor dem Friih-
stiick, das er gewohnlich im Bette verzehrte, zu ihm zu fiih-
ren.
Es war um Mitternacht, da sie von Tafel aufstanden und
der Abt den Knaben mit einem saftigen, beleckten Kusse gna-
digst zu sein em Vater entlieB. Dieser hatte den Abend mit
den jungen Geistlichen in einer ganz neuen Welt gelebt. In
seinem Leben hatte er noch nicht soviel Speisen gesehen, ge-
rochen, nennen gehort, als er hier selbst zu verschlingen be-
kam, in seinem Leben nicht soviel Branntewein getrunken,
als er hier ungarischen Wein verschluckte. Und da der Knabe
ihm von der graflichen Tafel noch groBere Wunder erzahlte,
vergingen ihm gar die Sinne.
So gemein auch den Klosterabten das groBe Talent zum
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Saufen zu sein pflegt, so ungemein war doch dieses Abts Me-
thode, sich niichtern zu saufen. Ich will sie deshalb erzahlen.
Er soff sich alle Abend voll. Die Probe, ob er auch wirklich
schon ganz voll sei, war die, dafi er sich mit beiden geballten
Fausten aus Leibeskraften auf den Armlehnen seines Sessels
stutzte und so mit Anstrengung Leibes und der Seelen ver-
suchte, ob er sich von dem weich gepolsterten, tief einsinken-
den Sitze noch etwas erheben konnte; ging das noch so, daB
er nur noch die geringste Bewegung des Hintern verspiirte,
so wurde noch eine neue Sorte Wein gegeben. Konnte er sich
aber mit aller Gewalt nicht mehr ein Haarbreit vom Sessel
erheben, dann war er wirklich voll, und dann brachte der Pa-
ter Kellermeister eine ungeheure Schale Punsch, wovon der
Abt so lange soff, bis er wieder niichtern wurde und aufstehn
konnte.
Auch hatte er seine eigne Methode im Fressen, um von al-
ien vierundzwanzig warmenSchiisseln und ebenso vielen klei-
nen Beisatzen genieBen zu konnen: Wenn er bei der zehnten,
zwolften Schiissel nicht mehr fortkonnte, ging er hinaus,
applizierte den langsten seiner Finger und kam mit neuem
Raume fur die librigen Speisen wieder zuriick zur Tafel.
War's den Kochen recht gut geraten, so geschah dies man-
chen Mittag wohl drei, vier MaL
Auf Befragen des Vaters, was so bei Tafel wohl gesprochen
worden, was der Abt zu ihm gesagt, fing der noch fast un-
schuldige KnaV an, Historchen und Schweinigeleien zu er-
zahlen, die er zum Teil gar nicht verstanden hatte und sie
itzt so wortlich, wie er sie gehort, wieder erzahlte. Nachdem
sie der Vater fur sein Teil belacht hatte, machte er ihm die
abscheulichen Schwanke verstandlich, um ihn nach seiner Art
von der Gottlosigkeit der katholischen Geistlichen desto leb-
hafter zu uberzeugen,undwiederholte die ganzeFeuerpredigt
von gestern. Befahl ihm aber dabei das demutigste, unterwor-
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fenste Betragen gegen den Abt gar sehr an, damit ihnen ilir
Geschenk niclit geschmalert wiirde, worauf der Vater schon
so sicher reclinete, daB er die Heine Miinze in seiner recliten
Hosentasche oft in Gedanken fiir Goldstiicke zahlte.
Sie waren in ein groBes, weites Zimmer zum Schlafen ge-
fiihrt, worinnen zwei groBe Gardinenbetten mit damastnen
Uberziigen und Vorhangen standen. Hier ergriff der Vater
mit Freuden die Gelegenheit, dem Knaben einen recht hohen
Begriff von der Unvergleichlichkeit des Virtuosenstandes bei-
zubringen: lebrte ihm, wie fiir einen Virtuosen nichts in der
Welt zu gut sei; wie ibn Fiirsten, Konige und Kaiser auf
Handen triigen; -wie ibm daher alles erlaubt sei, wie der Kai-
ser wohl hundert Fiirsten und Grafen machen konnte, aber
keinen Virtuosen; wie dieser, unterdessen daB mancher groBe
General auf freiem Felde auf Strob schlaf en miiBte, in seide-
nen Betten bis an den Mittag sicb ausstrecken konnte — Hie-
bei schlug der Vater die Decke des Betts auf und wollte die
Kopfkussen zurechtlegen, wnrde aber eine Menge langsam
kriecbender Tiere gewahr, mit denen des Knaben Kopf schon
binlanglich versorgt war, und sah sicb nach langen vergeb-
lichen Beratschlagungen gezwnngen, mit seinem Jungen auf
dem FuBboden zu liegen und sich mit Pelzen zu bedecken.
Den andern Morgen waren Seine Exzellenz ganz unge-
wohnlicherweise friib um acbt Uhr schon erwacht und ver-
langten sogleich nach dem Knaben. Eine Stunde spater sollte
das Friihstiick gebracht werden. Der Knabe wurde geholt. Der
Vater begleitete ihn bis ins Vorzimmer und gab ihm da noch
einmal die weise Lehre, sich ja recht submifi gegen den Abt
zu betragen, auch nicht Mode zu sein, sondern hubsch dreiste
zu antworten. »I warurn nicht«, erwiderte der Knabe, »is ja
auch man ein Mensch.«
Kaum war der Knabe dem Abt so nahe, daB er ihn aus
dem Bette erreichen konnte, so ergriff dieser mit Inbrunst die
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zarte, weiche Hand des Knaben, und trotz all seines Straubens
und Zuriickziehens
Mir gehen die Augen iiber beim Gedanken der teuflischen
Veirfiihrung der Unschuld. DaJB sie dir, du alter geiler Bock,
verdorrt ware, die Hand, die die unschuldige, sundenfreie
Hand zum Laster f iihrte !
Unterdessen der Vater in dem Vorzimmer auf die Zuriick-
kunft des Knaben wartete, gesellte sich ein alter, liebreicher,
ehrwiirdiger Pater zu ihm und sagt' ihm mit ernster, eindrin-
gender Stimme, mit zitterndem Handedruck: »TVenn du dein
Kind lieber hast als Geld und Gold, so fLieh' den Augenblick
von hier. Bedenke, daji du einst Rechenschaft fiir ihn geben
muJ3t.« So verlieB er ihn. Gulden zitterte am ganzen Leibe,
wollte all Augenblick an die verscblossene Tiire pochen, hatte
doch aber nicht das Herz dazu, sondern wartete, bis der Pater
Koff eeschenker mit dem Fruhstiick kam ; den bat er, ihm den
Jungen herauszuschicken.
Der Junge kam voll Scham und Verwirrung mit gliihenden
Backen heraus. Da er aber auf des Vaters ungestiime Fragen,
ob ihn der Abt habe wollen zur katholischen Religion bere-
den, heilig beteuerte, er habe kein Wort ihm davon gespro-
chen, wurde der Alte wieder ruhig, befiirchtete weiter nichts
und vergaB beim schwelgerischen Fruhstiicke in der Kiiche,
in der Zuckerbackerei, in der Apotheke und dem Keller die
weise Erinnerung des guten Paters ganzlich.
Den folgenden Tag fuhr der Abt nach Danzig, wollte den
Knaben zu sich in den Wagen nehmen, allein der Alte
straubte sich gar sehr und erhielt die Erlaubnis, ihn bei sich
zu behalten, mit dem Beding, ihn noch denselben Abend sei-
ner Ankunft in Danzig zum Abt zu fxihren. Dabei schenkte
der Abt dem Kleinen eine Dose von Agat in Gold gefaBt, mit
einem doppelten Deckel, unter dem obersten ein fiir den noch
halb unschuldigen Knaben lehrreiches Gemalde; und dem
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Alten zwolf Dukaten. In vollem Jubel iiber den gliicklichen
Anfang'ihrer Virtuosenreise zogen sie nun nach Danzig.
Gulden hatte gehort, daB die reisenden Virtuosen jeder-
zeit in den groBten Gasthofen einzukehren pflegen, und be-
schloB, ein gleiches zu tun. Weil er aber befiirchtete, man
wiirde ihm des lacherlichen, armseligen Aufzugs wegen in
einem groBen Gasthofe nicht aufnehmen, so setzte er sich erst
in einem Wirtshause vor der Stadt mit seinem Knaben und
treuen Rothbart in volligen Staat und lieB seinen Karren mit
dem Bretterkasten durch einen gemieteten Schiffsjungen hin-
ter sich her fuhren.
So kamen sie vor dem Gasthofe an und meldeten sich als
reisende Virtuosen, die soeben zu Schiffe von Petersburg ka-
men. Da ihnen der phlegmatische Wirt mit fettem Lacheln
iiber den possierlichen Aufzug fragte, ob sie im untersten
oder obersten Stock logieren wollten, entriistete sich der un-
ruhige, besorgte Gulden gar sehr, wie an ehrliche und groB-
beriihmte Leute, die in ihrem Leben noch keine Stunde im
Stock gestanden, eine solche kanalgesche Frage ergehen
konnte. Mit fettem Lacheln erwiderte der Wirt, er hab' ihn
falsch verstanden, er meine, ob die Herren unten oder eine
Treppe hoch wohnen wollten.
Gulden (dem dicken, auf 'm Rande der Tiirbank sitzenden,
hangenden Wirt auf 'n Leib f allend und ihn auf den rechten
FuB tretend): Ei, ganz gehorsamer Diener, so, so! Na, horen
Sie man an, wo so die besten Stuben sind. Mein Sohnchen ist
ein Wunderwerk, das sehn Sie ihm wohl nicht an ; komm her,
Heinchen, er hat vor Kaiser und Konige gespielt und noch
gestern mit einem groBen Fiirsten von einem Teller gegessen
und aus einem Kruge getrunken.
Wirt (mit dem linken FuB sachte iiber den rechten her-
fahrend): Mogen doch meinetwegen groBe Fiirsten auf'm
Wasser herumschwimmen, wenn der Herr nur meinen gro-
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Ben Zeh ungeschoren gelassen hatte. Marie, mache mir war-
men Wein zu Umschlagen.
Nun wurden sie oben in die besten Zimmer des Hauses ge-
fiihrt. Es war ein groBes Zimmer, nebenan ein kleineres zum
Schlafen und daneben eine Kammer fur den Bedienten. Das
grofie Zimmer war nach landesiiblicher Art aufs beste aufge-
putzt. Die Wande besetzt mit sehr kxinstlich gearbeiteten, spie-
gelblank gebohnetenSchranken von Eichenholz, ausgelegt mit
Figuren aus dem Tierreich und Geisterreich von Ebenholz
und Elfenbein, auch an den Randern verbramt mit kiinst-
lichen Schnitzwerken aus Ebenholz. Die hohen Schranke bis
an den Balken auf schrag hinanlaufenden Gelandern besetzt
mit japanischen und chinesischen Porcelain -Figuren und
-Tassen. Unter den FiiBen der Schranke, die allerlei Figuren,
als Mohren, Affen, Lowen, vorstellten, kleingeschnittne Tan-
nen mit roten Apfeln und Kalmus gestreut; ebenso um die
rehfiiBigen, mit Moppchensteine ausgelegten Tische und
kiinstlich gearbeiteten hohen und schweren Stuhle mit blu-
michten, hie und da verguldetem Leder beschlagen. Spiegel,
an den Seiten mit griinen, roten, gelben und blauen Glase
ausgelegt und mit ungeheuern vergoldeten Rahmen, die die
Fenster zu beiden Seiten iiber die Halfte bedeckten. IJber das
schmale, griingelblichte Spiegelglas eine Decke von schwar-
zem Flor, die es besser fur itzt lebende Fliegen bewahren
sollte, als es im vorigen Jahrhundert bewahrt worden. Drei-
fache Vorhange vor den Fenstern, bis zur halben Hohe der
Fenster aufgezogen, da ruheten sie unter den unzahligen Fal-
ten und Trodlen der obern Verzierung. In den Ecken der
Stube schmale, hohe, oben spitz zulaufende Glaserspinden,
angefullt mit unzahligen Pokalen von sehr verschiedenen
Formen und verschiedenen groBen, beriihmten Saufern her-
stammend. In den kleinen Glasern waren seit funfzig Jahren
eine Menge bunter Ostereier aufbewahrt, mit eingekratzten
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Denkspriiehen und heiligeii Gemalden. Die Schranke unter
den Glasspinden waren zu- einem Pfeif enkabinett von Kalk-
pf eif en bestimmt und bereits fast ganz damit angef lillt.
Der Wirt hatte namlich seit funfzig Jahren darauf gehal-
ten, daB jeder Gast, der bei ihm einkehrte, auf die Pfeife, die
er da geraucht, beim Abschiede seinen Namen gezeichnet,
und so wurde denn die Pfeife sorgfaltig aufgeboben. Des
Wirts groBte Freude war's, einem Gast, der zum andern Male
da einkehrte, seine gezeichnete Pfeife zu geben: Wesbalb die
Pfeif en audi alle nacb dem Alphabet geordnet und in ein gro-
Bes Bucb eingetragen waren.
Auch waren die kleinen, schmalen Fensterscheiben bedeckt
mit Namenziigen und Denkspriiclien von fettgemasteten
Witze. Die Seitenwande an den Fenstern und das Gesims
urn die Tiiren herum waren ausgelegt mit Moppchensteine,
auf jeden Stein drei blaue Schafe gemalt. Noeh ragten hie
und da hinter den Schranken alte Familiengemalde hervor:
dort durch eine kleine Offnung zwischen zwei Schranken eine
groBe, fette Hand, einen Pokal haltend, hier eine kurze,
fleischwelligte Stirn mit einer ungeheuern gekrauselten Pe-
riicke, da drei Seitenknoten einer Periicke, hier eine voile,
fette Weiberhand, einen Schaf erstab haltend, usw.
Kaum hatte Gulden den glattgebohneten Boden dieses Zim-
mers mit angstlichen Schritten betreten, als ihm der Wirt
wohlmeinend ermahnte, sich darinnen alles Hausens zu ent-
halten. »Hier die Schranke, sehen der Herr nur, stehen auf
den gar hubsch gedrechselten kuriosen FiiBen nicht so recht
f este, und wenn da, verstehn Sie mich, der kleine Mann Got-
tes wo anlief e oder sich dranlehnte oder dranstieBe oder sonst
irgendeine Bewegung daran machte, sehe der Herr nur, so
wiirde mein schones, wunderseltnes chinesisches und japani-
sches und asiatisches Porcelain zum langsten gedauert haben
und sonder alien Zweifel kapores gehen. Deshalb wollt 9 ich
62
denn wohl so den Herrn ohnmaBgeblich bitten, diesen schma-
len Deckenstreif lieber gar nicht zu uberschreiten; auch wollt'
ich ohnmaBgeblich bitten, die Stiihle nicht von der Stelle zu
nehmen, damit die daruntergestreuten neckschen Figuren von
Tannen und Kalmus, uber denen meine Tochter den ganzen
verwichenen Sonnabend zugebracht, nicht verschoben wer-
den; auch wollt' ich ohnmaBgeblich bitten, die Fenster ja
nicht zu offnen, damit keine Fliegen hereinkommen, die mir
die Vorhange und Glasspinde besudeln konnten, mir auch
wohl gar meinen chinesischen Kaiser eins auf die Nase
schmeiBen, hahahahahaha. Auch bitt' ich deshalb gar sehr,
sich alles Essens und Trinkens in diesem Zimmer zu enthal-
ten.
Dafiir konnen aber derHerr hier nebenan inlhremSchlaf-
zimmer Ihr Wesen nach Belieben treiben. Jedoch wollt' ich
ohnmaBgeblich bitten, sich in den Betten alles iibermaBigen
Schwitzens und anderer verunreinigenden Dingen zu ent-
halten, damit mir die schonen Betten von lauter Eiderdaunen
undhollandischerLeinwand nicht verdorben werden. Eshaben
Fiirsten und Graf en in den Betten gelegen und jederzeit solch
Wohlgef alien daran gefunden, daB sie des Morgens, wenn
ihnen die Aufwarterin den Koffee brachte, immer nicht her-
aus -wollt en.
Ich habe den Herrn hierumnurwohlmeinend und ohnmaB-
geblich bitten und raten wollen, denn iibrigens finden der
Herr hier in der Mauerspinde ein groBes Buch, worinnen ganz
genau aufgezeichnet ist, was ein jedes dieser Stiicke bis auf
die kleine glaserne Maus, die da neben dem Kaiser von Japan
steht, gekostet und wornach es mir der Herr bei vorf allenden
Schaden zu vergiiten belieben werden. Die Summe von denen
in diesen beiden Zimmern befindlichenGeratschaften betragt,
wie das groBe Buch ausweiset, zweitausendachthundert Taler
in Golde.«
63
Gulden blieb wie versteinert stehen, fiihlte ganz das Elend
des zwangvollen Uberflusses, wiinschte sich mit Tranen in die
Kuchenstube und war' auch sicher spornstreichs hingelaufen,
hatt' ihn nicht Ehre, Virtuosenehre, auf dem schmalen Decken-
streif gehalten. Noch traute er sich nicht, quer iiber das Zim-
mer zu gehen, bei jeden Tritt zitterte er, die Schranke moch-
ten dadurch erschiittert werden und irgendein chinesischer
Konig oder japanischer Papst auf seine Rechnung die Reise
vom Schrank auf den Boden machen.
Mit staunenderVerwunderungstarrt'er all die kunstlichen
Figuren lange an, dann ergriff er den Jungen und drohte den
mit hundert Priigel, wenn er sich je unterstande, iiber die
Decke zu gehen; er war nah dran, seine Bosheit iiber das
Zwangvolle seiner neuen Lage an den armen Jungen aus-
zulassen und den fur das nachstemal, daB er wohl iiber die
Decke gehen konnte, zum voraus abzupriigeln, als er plotz-
lich durch einen fiirchterlichen Larm iiber seinem Kopfe auf-
geschreckt wurde.
Lange horchte er vergeblich darnach, was es wohl sein
mochte, endiich schlich er sachte die enge Windeldreppe hin-
an, der Knabe hinter ihm. Kaum Avar er auf der Mitte der
Treppe, so sturzte ihm ein junger, braun mit Silber geklei-
deter Mann entgegen, hinter ihm drein ein kleiner, lahmer,
einaugigter, dickkopfigter, groBnasigter, groBmauliger, lang-
ohriger, kraushaariger, bis aufs Hemd ausgekleideter Kerl,
mit dem FuBgestelle eines groBen Notenpults auf ihm schla-
gend und aus Leibeskraften rufend: »Bugerone, du Ver-
fluckter, will dick lern, kom mein Tockter karessier ohn mein
Permission /«
Gulden klemmte sich aus Leibesvermogen hart an das Trep-
pengelander, um nicht mit fortgerissen zu werden, wurde aber
demohngeachtet samt seinen Jungen um und um gelauf en
und bekam zwei harte Schlage mit dem Notenpult. Unter-
64
dessen sich Gulden aufraffte und zu alien Seiten vergeblich
nach Blut fiihlte, kam der alte Kerl wieder heraufgehinkt
und wandte sich sehr demiitig an Gulden, der nun vollends
oben -war: »Pardonier' Sie, daj3 ick Sie in mein terrible grof3
Rage 'ab touchiert. 'at sick verfluckter Bugeroiste mit mein
Tockter karessiert, ohn mit mir zu 'ab akkordiert, un hat sick
dock Gelte ivie 'eu. Mit zuer 'ab ick die Ehre zu sprecke?«
Gulden erklarte sich nun liber die unermeBliche Geschick-
lichkeit seines Jungens in der Violine und liber die hohe Ehre,
die er bei hohen Potentaten deshalb schon genossen. Mit freu-
digem Jauchzen erwiderte der Alte, er sei auch ein Sanger,
habe in Petersburg lange die erste Rolle in der Opera buffa
gespielt, und seine Frau und Tochter waren die ersten Sange-
rinnen in der Welt; es freute ihn iiber alle MaBen, Gulden
kennenzulernen ; sie wollten gemeinschaftliche Sache machen,
zusammen ein Konzert geben, zusammen weiterreisen und
>macken groj3 W under <.
Nun fiihrte er Gulden zu seinen Damen und schrie, eh' er
noch die Tiire halb offen hatte. »Is kein Unglick grofi, das
nick 'ab Klick. 'ab ick kepriekelt verfluckten Bugerone, bin
ick kef all auf dies Monsier, un is en groft Virtuos auf Vio-
line.«
Mitten in der Stube saB auf einem kleinen Stuhl ein un-
geheuer dickes Weib in blofiem Hemde, das vorn bis auf den
Nabel ausgeschnitten war, die Armel hoch aufgekremt, die
grauenHaare, vermischt mit schwarzem Pf erdehaar, auf einer
Seite f risiert, auf der andern noch urn denKopf herumhangen,
und suchte vierHunden, die sie auf demSchoBe hielt, die Floh
ab. Dies war die Frau des Alten.
Zur Seite stand die Tochter halb im Hemde, denn sie hatte
einen kurzen, rotfrieBenen Rock an, der ihr doch fast bis an
die Waden ging und unter dem nur hier und da einzelne
Fetzen des zerrissenen Hemdes hervorblickten. Oberwarts war
65
sie bloB mit dem Hemde bekleidet, jedoch die Haare bereits
hoch frisiert und mit dreizehn verschiedenen Zitteraadeln
und Stutzfedern geschmiiekt. Sie stand vor dem Ofen, in des-
sen Rohre sie ihrem Heiligen einen Altar erbaut, und klebte
eben neue Bildercben an, die ihr der junge Kaufmann ge-
bracht, den der alte Vater so unhoflich von ihrem Bette auf
die StraBe begleitete.
Die Tocbter drebte den Ankommenden den Riicken zu und
wollte sicb nicbt umkehren, schmollte noch gar sehr mit dem
Herrn Papa, da er so impertinent gewesen, sie in ihrem Ver-
gniigen zu storen; und da er sie mit Gewalt notigen -wollte,
die Gaste f reundlieh zu empf angen, straubte sie sicb mit Macht
und scbwur ibm, ohne nacb den Gasten hinzusehen, er mocht 7
ihr nun auch zuf iihren, wem er wollte, und wenn er auch den
besten, eintraglichsten Akkord gemacht, so wiirde sie ihn
nicht annehmen und in nichts willigen, bis er ihr den jungen,
eben vertriebnen Kaufmann wiedergeholt hatte.
Er ergriff eben die groBe Feuerzange, mit der er vorher
der Frau die Papillotten gebrannt, und wollte iiber die hals-
starrige Tochter herf alien, als ein altes bucHichtes Weib mit
groBemZettergeschrei hereinstiirzte und verkiindigte, dieKatze
habe si eben von der Mademoiselle ihren Vogeln gef ressen. Der
Alte, der da meinte, es sei eine von den fiinf Katzen, die die
Frau und Tochter im Zimmer hatten, ging nun auf die Kat-
zen los, die unterm Ofen lagen, und schlug jammerlich drein.
Dies trieb die Frau Gemahlin, die die Katzen gar sehr
liebte, in grofien Harnisch; sie warf die Hunde vom SchoB
und fiel mit gekriimmten Fingern den alten Herrn Gemahl
in die Haare. Die Hunde, die nur unter den Augen ihrer
Gebieterin fromm waren, fielen nun dem alten Gulden und
seinen Jungen in die Beine.
Die Tochter war indessen in die Kammer gelaufen, die
Leichnamme zu beweinen, kam aber itzt auf das angstliche
66
Zuhulferufen ihres Vaters herbeigeeilt. Dieser versprach ihr,
den jungen Kaufmann zu holen, sie sollt' ihm nur von der
Mutter erlosen. Da fiel sie iiber die Mutter her und wandte
alle Gewalt an, sie mit StoBen und Kneipen vom Vater ab-
zubringen. Die Alte hatte sich nun aber einmal so verbissen,
daB sie nicht wieder los konnte, rief aber das alte bucklichte
Weib zur Hiilfe, die dann mit Kratzen und Quieken uber die
Tochter herfiel. So war die vierstimmige italienische Fuge
eben in vollem Gange, da ein kleiner Junge hereinstiirzte und
deni Alten zuschrie, die Schokolatensuppe lief ins Feuer.
Dies war fur alle der starkste Bewegungsgrund, den Alten
loszulassen, der dann ganz zerkratzt und zerzaust in die Kiiche
eilte, die Suppe zu retten.
Gulden hatte sich wahrend derPriigelei mit tausend Bocks -
spriingen die Hunde abzuwehren gesucht, war sie aber nicht
eher losgeworden, als bis die Stubentiire aufging, da dann
die Hunde die seltene erwiinschte Gelegenheit ergriffen, sich
in Freiheit zu begeben, und seit langer Zeit einmal das Gliick
genossen, ohne Hofmeister und Aufseher ihre Notdurft zu
verrichten.
Darauf zog sich Gulden die Stief eln ab, um zu sehen, ob die
Bisse der Hunde durchgekommen waren, und da er sah, daB
das Blut durch den Strumpf kam, warf er voll Bosheit den
Stief el weit von sich unter die Streitenden und traf damit die
Alte an ihrenlinken FuB,woran sie seit zwanzig Jahren einen
offnen Schaden hatte. Kaum hatte diese nun ihre Hande von
ihrem Manne abgezogen, als sie iiber den alten Gulden her-
fiel. Die Tochter, die ihn fur einen von ihrem Vater ihr zu-
gefiihrten Liebhaber hielt, konnte sich nicht enthalten, ihre
Bosheit in gleichem MaBe an ihn auzulassen. Das alte buck-
lichte Weib, die in solchem Gefechte gewohnlich die dritte
weibliche Person abgab, unterlieB nicht, auch ihre Hande ins
Spiel zu mischen.
67
Gulden, der den streitenden Haufen au£ sich herfallen sah,
hielt's nicht fur ratsam, den Anfall abzuwarten, sondern reti-
rierte sich in eine Ecke der Stube und verpalisadierte sich
mit Stiihlen; da er aber nichts in Handen hatte, auch zu enge
stand, urn den Degen zu ziehen, konnt' er nur mit Speichel
auf sie f eiern, den er ihnen dann auch in niclit geringer Quan-
titat ins Gesicht spie. Dadurcli schwoll die Wut der Weiber
dermafien an, daB sie ihn mit verdoppelten Angriff aus seiner
Schanze heraustrieben, und nun hattet ihr den alten Gulden
auf seinen Striimpfen sehn sollen aus einer Ecke des Zimmers
in die andere springen.
Der Junge, der sich lange aus Leibeskraften vergeblich be-
miihte, die Weiber bei den Rocken und Handarmeln zuriick-
zuziehn, bekam endlich von der hinten ausschlagenden Frau
Mama einen Pantoffelschlag an die Nase, daB sie ihm blu-
tete; er eilte also ins Vorhaus, um den Alten und alles, was
da war, zur Hiilfe zu rufen. Der Alte brachte indessen erst
seine Schokolatensuppe in Sicherheit und kam nun mit der
vollen Schussel herein, gebot denen eben bei ihm Vorbei-
springenden Waffenstillstand und drohete, wo nicht, ihnen
alien die heiBe Suppe iibern Kopf zu giefien.
Auch kam mit ihm ihr alter Bedienter, der den Vormittag
liber mit Ratzenpulver, Zahnpulver und Leichdornpflaster in
der Stadt herumgegangen, und half seine gebietende Damen
zur Ruhe bringen.
Gulden, der ganz atemlos und wie gekocht am ganzen Leibe
war, warf sich unter tausend Schimpfworten und Fluchen,
die sie alle nicht verstanden, auf einen Stuhl. Der Knabesuchte
ihm die Stiefeln zusammen, von denen einer auf dem Ofen
gefunden wurde, und nun kleidete sich Gulden wieder ah.
Vergeblich bemuhte sich der Alte, zu erf ahren, was eigentlich
die Schlagerei zwischen ihnen veranlaBt; die Alte schimpfte
unablassig in tausend italienischen Schimpfworten auf Gulden
68
und dieser in nicht weniger deutschen S chimp f wort en auf die
Weiber.
Der Alte kannt' indessen seine Welt und bat den Gulden,
diesen Mittag mit ihnen vorliebzunehmen ; der Frau sagte er
ins Ohr, sie konnten groBe Vorteile von Gulden ziehen, und
so wurden beide gelassener und trunken einen Schnaps Dan-
ziger auf die Argernis. Die Suppe hatte der Alte indessen ins
Bette gesetzt und ein Kopfkiissen daraufgedeckt, damit sie
warm bliebe, denn er muBte noch die Karbonade zubereiten
und zwischenein die Frau frisieren. Das geschah denn auch.
Er ging ab und zu, von den Haaren der Frau zur Karbonade,
deckte mitunter auch den Tisch, und in einer Stunde saBen
unsere neuen Freunde in Friede und Eintracht bei ihrer Scho-
kolatensuppe, aus gebranntem Mehl zubereitet, und Karbo-
nade von Hammelfleisch mit Leinol und Knospen von But-
terblumen statt Kapern.
Bei sauerm Weine wurde nun der Plan zu einem gemein-
schaftlichen Konzert bezankt. Die Alte wollte, das Konzert
sollte auf dem Theater gegeben werden, damit sie ihre despe-
raten Arien mit volliger Aktion singen konnte. Der Mann
meinte aber, diese Aktion und besonders seine komische Ak-
tion wiirde im Saal, wo man's so wenig erwartete und so
wenig gewohnt ware, weit mehr Effekt tun.
Gulden war auch sehr furs Theater, denn er glaubte, die
kleine Figur seines Knabens wiirde sich da weit mehr aus-
nehmen. Dem wuBte dann aber der alte Italiener gar bald
abzuhelfen: Man durfte nur den Stuhl auf einen Tisch set-
zen und den Kleinen auf den Stuhl helfen, so war's im Zim-
mer so gut und noch in die Augen fallender als auf dem Thea-
ter; da seine Tochter noch kleiner gewesen, habe sie ebenso
debutiert. Auch trat die Tochter der Meinung des Vaters bei :
denn sosehr geubt sie auch in natiirlichen Handlungen war,
so wenig verstand sie sich auf die kiinstliche Handlung. Und
69
es war wirklich zu verwundern, wie sie's, ohne auf dem Thea-
ter gewesen zu sein, bloB clurch Hiilf e ilirer Eltern so weit in
den H ++ hauslichen Tugenden gebraclit.
Der alte Bediente, der eben axis dem Hause geliend auf der
StraBe zu ruf en anfing : »Koft, wer koft Pulwehr fiir die Ratz,
fiir die Zahn, fur die Ihnerauk«, wurde zuriickgerufen und
ihm der Auftrag gegeben, gelegentlich einen Saal zum Kon-
zert auszufragen.
Nun wurde die musikalische Besetzung des Konzerts be-
stritten, und urn so wohlfeil wie moglich davonzukommen,
wurde beschlossen, zwei Violinen, einen Violoncell, eine Flote,
eine Hoboe, zwei Waldhorner, eine Trompete und Pauken zu
bestellen. Die blasenden Instrumente waren der komischen
Arien des Alten wegen notwendig. Da die Frau und Tochter
noch durcbaus auf ein Spinett bestanden, urn sich den Ton
anzugeben, mit dem sie anfangen sollten, so wurde dieses
nocb zugegeben.
Nun kam's an die Bekanntmachung des Konzerts und an
die Verteilung der Billette. Es sollte ein groBer Zettel mit
roten Bucbstaben abgedruckt und an alien Ecken der StraBen
angescblagen, audi in alien Hausern durch den fiir die Ratz
und fiir die Zabn handelnden Bedienten verteilt werden. Der
alteste Sohn des Wirts, ein lustiger Vogel, der die ganze Ge-
sellscbaft der Tochter wegen im Hause noch soutenierte, sonst
hatte sie der Vater langst zum Hause hinausgeworfen, trat
eben bei dieser Beratschlagung ins Zimmer und mufite sich
hinsetzen, um nach der Vorschrift aller einen deutschen An-
schlagzettel zu f abrizieren. Nach sehr haufigen Ausstreichen
tind Andern stand dann f olgendes A vertissement auf 'm Papier :
>Mit allergnadigster, allerhochster obrigkeitlichster Bewil-
ligung wird kiinftigen Sonntag eine beriihmte Gesellschaft
von groBen Virtuosen, die mit allgemeinem Beifall rund um
die Welt gereist, in einem groBen, zahlreichen Konzert sich
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offentlich und fiir jedermann horen zu lassen die hohe Ehre
haben. Sigistoke Picciolo, der seit vielen Jahren als der groBte
Buffone bekannt ist und die holie Ehre genossen, mit
Gunst und Gnade von alien hohen Potentaten gekront zu wer-
den, wird sich in gar possierlichen, lustigen, narrischen, lacher-
lichen, jedoch insgesamt moralischen Arien in voller Aktion
horen lassen.
Sigjntora Picciola, seine Gemahlin, die den grofiten An-
teil an jener hohen Ehre hat, wird sich in einigen schreck-
lichen, rasenden, abscheulich tollen Arien, ebenfalls in volli-
ger Aktion, zu prasentieren die hohe Ehre haben.
Auchwird dieTochter, die an Schonheit nicht ihresgleichen
hat und von hohen Potentaten auch nicht unbeehrt verblie-
ben, in einigen verliebten, sterbenden und wiederauflebenden
Stiicken die Ehre haben, ein wohlgeneigtes Publikum zu
amiisieren.
Endlidi wird ein siebenjahriger Knabe, ein wahres Meer-
wunder, gar hexenmafiige Tausendkiinsteleien auf der Vio-
line zeigen. Er wird krahen wie ein Hahn, mauen wie eine
Katze, schreien wie ein junger Esel, pfeifen w^ie eine Maus,
und alles auf der Violine. Wer blind ist, wird's nicht gewahr,
daB es eine Violine ist.
Die Person zahlet einen Taler; hohe Standespersonen zah-
len nach Belieben. Und werden wir nicht ermangeln, ein
hochgeneigtes Publikum aus Leibeskraften zu amiisieren. <
Nun kam die Verteilung der Billette vor; dariiber wurde,
nach einigen heftigen Zankereien, mit Kopfstofien unter-
mischt, endlich f estgesetzt, daB sie sich in zwei Partien teilen
wollten: Sigjntore Picciolo und seine Tochter eine, die andre
Gulden und sein Sohn. Jede Partie sollte hundert Billette
nehmen und so Haus fiir Haus gehen, sich beim Herrn des
Hauses melden lassen und zugleich ein halb Dutzend Billette
mit hineinschicken. Gulden sollte mit seinem Sohn seinen
71
Weg einen Tag friiher antreten, und den Tag darauf wollte
SiGNORfi Picciolo mit seiner Tochter denselben Weg nocli
einmal bereisen, urn den harten Herzen, die bei dem diin-
nen Gold und Silber auf den Kleidern derer Herren Gulden
unempfindlich geblieben, durch das starker aufgetragene
Weifi und Rot auf der Tochter Wangen in Bewegung zu
setzen.
Auch machte der Weltkenner Picciolo noch das Gesetz,
dafi in denFamilien, wo ein alter Mann mit einerjungenFrau
lebte, sich Gulden bei der Frau des Hauses miisse melden
lassen, dahingegen in Familien, wo ein junger Mann mit
einer alten Frau lebte, er sich mit seiner Tochter an den
Mann wenden wolle. Von beiderseitigen bejahrten Eheleuten
und Junggesellen und Hagestolzen versprachen sie sich vom
wiederholten Zuge doppelten Vorteil.
Nun sollten auch sogleich dieBillette zumKonzert gemacht
werden. Gulden muBte vierhundert Karten und eine Menge
Siegellack holen lassen, denn Signobje Picciolo hatte eben
kein kleines Geld bei der Hand. Drauf setzten sie sich alle
una einen runden Tisch und fingen an, die Billette zu siegeln.
Der Sohn des Wirts mufite sie schreiben. Unter allgemeinen
Geschrei und kraftigen Beistand von alien Seiten brachten
sie folgende Billettform zustande: >Konzert-Billett fur die
musikalischen Liebhaber von zwei Damen und zwei Cha-
teaux. <
Sobald ein solches Billett geschrieben war, wurd' es sogleich
gesiegelt und gemeinhin verwischt. Die Halfte davon mufite
daher weggeworfen werden, die iibrigen w^aren kaum leser-
lich. Das Siegel war ein stofiender Bock, auf dem Taschen-
messer des alten Gulden gar groblich eingeschnitten. Auf
tausendfache Art wurde dieser Bock wahrend des Geschafts
bewitzelt und beflucht, denn sie verbrennten sich fast alle die
Finger dran.
72
DerEntwurf zum Anschlagezettel wurde sogleich zumBuch-
drucker geschickt, und den f olgenden Morgen sollte die Wan-
derung zu Verteilung der Billette angetreten werden. Den
ersten Gang wollten sie irsr corpore zum Herrn Biirgermei-
ster tun, um von dem die Erlaubnis zu dem bereits vollig
angeordneten Konzert zu erhalten.
Uber alle diese Unterhandlungen, wozu Sigistore Picciolo
auf Guldens Namen hatte sechs Bouteillen Wein heraufholen
lassen, war der bestellte Gang zum Abt vergessen. Erst spat
im Bette dachte Gulden daran und fluchte und schimpfte
seinen Knaben noch einmal munter, daB' die kanalgesche Be-
stie, die doch an nichts denken diirfte, nicht daran erinnert
hatte. Lange schwieg der Knabe. Da es aber kein Ende nahm,
sagte er dem Vater, er hab' ihn mit Willen nicht daran er-
innert. Er wurde nie wieder zum Abt hingehen, und wann
ihn der Vater auch hinpriigeln wollte.
Es war das erste Mai in seinem Leben, daB er das Herz
gehabt, dem Vater geradezu zu widersprechen. Meine Leser,
die mich bisher verstanden und fiihlen und denken konnen,
werden hier die Ursache davon bald fiihlen. Der Vater, ohne
sich viel um die Griinde seiner Widersetzlichkeit zu bekiim-
mern, sprang wie eine Furie zum Bette hinaus und so auf
des Jungen Bette zu. Er hatte ihn sicher halbtot gepriigelt,
ware der Junge nicht ebensoschnell wie ein Reh zur Ture hin-
ausgesprungen. Aber auch das hatt' ihn fur die Wut des Va-
ters nicht geschiitzt, hatt' er sich nicht unter einen Schrank
in der Vorstube verkrochen.
Der Vater war dieses zwar gewahr geworden, konnt' ihm
aber ohne Gef ahr f iirs Porcelain nicht ankommen. Denn gleich
beim ersten Schlage, den er nach ihm tat, schlug er an den
Fui3 des Schranks und notigte dadurch einen alt en Brahmi-
nen, aus seiner heiligen Ruh' iiber Hals und iiber Kopf her-
unterzukommen. Alle Drohungen waren vergeblich, den Jun-
73
gen da hervorzubringen. Er bestand darauf, der Vater mufit 7
ihm erst heilig versprechen, ihn nicht zu schlagen, eh. kam'
er nicht hervor. Da dem Vater itzt nur vorziiglich darum zu
tun war, denblessiertenBrahminen beiseite zu bringen, so ver-
sprach er's und beschwor's. Nun muBte der Junge auf zwei
ubereinandergesetzte Stiihle steigen und den Brahminen, der
nur einen Arm beim Fall verloren, so stellen, daB man von
unten den zerschlagenen Arm nicht so leicht bemerkte. Beim
Herabsteigen ging es denn nicht so ganz ohne RibbenstoBe
ab, und was der erboste Vater mit Schlagen noch so an sich
hielt, ersetzte er zehnfach mit Fliichen.
Den andern Morgen friih erschien der Bediente des Abts
und forderte den Knaben sogleich zu Seiner Exzellenz. Der
Vater versicherte, er wiirde sogleich die Gnade haben, aufzu-
warten. Der Jung' aber bestand darauf, er ginge nicht wieder
hin, lieB sich derV abpriigeln und ging doch nicht. Da lief
der Vater hin zu Seiner Exzellenz und entschuldigte seinen
Knaben aufs beste.
Vater; Eben, da er voll Lustigkeit, daB er zu Euer Durch-
laucht sollte, die Treppe uber Hals iiber Kopf hinunterlauft,
pratsch, liegt er da und kullert so die ganze Treppe von oben
bis unten herab und schlagt sich ein groB Loch in den Kopf.
Abt: Seinen Kopf brauch ich eben nicht.
Voter: Ja, er hat sich auch die Hand verrenkt.
Abt : Das ist schlimm.
Vater: Sobald er aber wieder spielen kann, wird er die hohe
Gnade haben, Euer Durchlaucht untertanigst aufzuwarten.
Indessen war der alte Gulden unvorsichtig genug, den
Knaben noch denselben Morgen zum Biirgermeister und zu
den ubrigen Wanderungen mitzunehmen. Der Abt erfuhr's
sogleich von seinen Bedienten und nahm's gar hochlich iibel.
Den Mittag speiseten Hochdieselben bei dem Herrn Biirger-
meister der Stadt mit dem gesamten Adel und vornehmen
74
Biirgerstande axis der Stadt und unterlieBen denn nicht, bei
Tafel zu erzahlen, wie sie ehegestern einen sehx narrischen
Auftritt mit herumreisendenMusikanten gehabt, die bei ihrer
Ankunft einen ganz erstaunenden Larm von einem kl einen
Jungen gemacht, der aber hernach kaum hatte auf der Violine
rein greifen konnen. Das Gesindel sei nun hierher gezogen,
urn ihr Gliick in der Stadt zu versuchen.
Der Burgermeister wuBte sogleich sehr umstandlich zu
erzahlen, wie sie heute bei ihm gewesen und urn Erlaubnis zu
einem offentlichen Konzert angehalten. Da sie ihm so sehr
angstlich ihre dringende Not geklagt und ihn um Gottes wil-
len darum gebeten, hab' er ihnen endlich die Erlaubnis ge-
geben. Je nun, mogen sie ihr Gliick beim Pobel versuchen,
wir wollen uns denn doch die Nachricht von Euer Exzellenz
als einem groBen Musikkenner fur uns und unsere Familien
undBekannte ad intotam nehmen. Die ganze Gesellschaft ver-
neigte sich und wufite nun, daB sie den nachsten Sonntag
nicht im Konzert sein wtirde.
Gulden empfand auch gar bald dieiibelnFolgendieser Ver-
abredung, er wurde fast bei alien Turen so rund abgewiesen,
daB ihn die Bedienten gar nicht einmal melden wollten. Jene
Herren hatten es ihren Weibern gesagt und diese . Die
Buben auf der StraBe sprachen den nachsten Tag schon davon.
Andre, die von dieser Verabredung noch nicht so ganz unter-
richtet waren, trugen groB Bedenken, den lieben Sonntag
zu solchen Gaukeleien anzuwenden, hatten auch schon ver-
abredete Kaffee- und Weinkranzchen, oder Spielgesellschaft
im Garten, oder verabredete Wasserfahrten, Familienspazier-
fahrten iiber Land und dergleichen.
Kurz, sie brachten die gauze Woche durch nur sieben Bil-
lette an, und ihr ganzes Gliick beruhte nun auf die Anschlage-
zettel. Desto mehr Vorsicht nahmen sie auch gegeneinander
wegen des nun bei der Tiire bar einzunehmenden Geldes.
75
Von seiten des alten Gulden mufite Rothbart und ein Lohn-
bedienter an der einen Tiire des Konzertsaals stehn. An der
andern von seiten des Signore Picciolo sein alter Bedienter
fur die Ratz und fur die Zahn, das alte bucklichte Weib und
ein andrer Lohnbedienter. Besondre Aufsicht iiber Guldens
Leute hi elt Sign ore Picciolo und seine Frau und iiber den
andern Teil der alte Gulden.
Sie hatten sich wirklich so gut gegeneinander und gegen
ihre Leute gesichert, daB kein Groschen verlorengehen konnte.
Es ging auch wirklich kein Groschen verloren, denn zu allem
Unglxick kam kein einziger Mensch, der an der Tiire bezahlte.
Das war alien unbegreiflich. In einer grofien Stadt, zur Zeit
des grofien Markts, an einem geschaftlosen Tage kein einzi-
ger neugieriger Mensch unter all den wohlhabenden Einwoh-
nern! Gulden meinte, es sei das diimmste Volk auf der Welt.
Der Weltkenner Picciolo schiittelte aber den Kopf und die
rechte Hand naher dem Ohre zu und kratzte sich dann hinter
dem Ohr, als wollt' er sagen: so dumm eben nicht; waren
sie dumm, wiirden sie neugieriger sein. Aber auch unter all
den vielen hundert MiiBiggangern unter den Fremden, mit
denen alle Wirtshauser besetzt waren, kein einziger, der Neu-
gierde genug fiir alle die angekiindigten Dinge und einen
Taler iibrig hatte oder ihn doch auf irgendeine gute Art vom
Wirt, der Hausmagd oder dem Hausknecht geliehen bekom-
men konnte ! Das war alien unbegreiflich, bis einer von
den sieben, die auf Billetts sich einstellten, es sehr naturlich
damit erklarte, daB auf dem Anschlagzettel kein Datum und
kein Ort zum Konzert bestimmt sei.
Nun ging der Katzentanz los. Einer wojlte dem andern in
die Haare. Jeder wollte sich selbst die Haare ausreiBen. Die
alte Frau f and den Aufsatz der Tochter schief und riickte ihn
ihr zurecht, daB die Haarnadeln ihr im Fleische stachen; bald
safien die Manschetten zu weit vor, und die Mutter schob sie
76
zurecht, daB der Arm braun und blau wurde. Gulden ohr-
feigte seinen Jungen fiir einen Fleck im Kleide, den er vor
zweiMonathineingemacht, wacker herum. Signore Picgiolo
sann indessen, mit zusammengebissenen Lippen und halb-
verschlossenen, in die auBern Winkel scharf zusammengezog-
nen Augen, auf Mittel, dem "LJbel abzuhelf en. Es blieb nichts
anders iibrig, als daB er, seine Frau und Tochter, Gulden und
sein Sohn sich vor die Ture stellten und alien voriibergehen-
den Pobel, mit Possen und Tranen, mit List und Gewalt, fur
beliebige Bezahlung, hineinzutreiben suchten. Audi wahrt' es
keine Stunde, so hatte der auBerst komische Aufzug unsrer
fiinf Helden eine Menge Menschen in das Haus herein ver-
sammlet, von denen sich denn doch einige funfzig hatten hin-
einliigen, hineinliebaugeln, hineinflehen, -zerren und -dran-
gen lassen.
Zwar waren nicht viel iiber zehn Taler von all diesen ein-
gekommen; aber G^Z<i^^meinte,es ware doch besser als nichts,
und man hatte doch wenigstens nicht die Schande, fiir sieben
Menschen gespielt zu haben. Dieser Trost wurde noch zur Hin-
tertiire hinein merklich verstarkt. ImHintergebaude des Hau-
ses war ein Kaffeehaus fiir beiderlei Geschlecht, welches am
Sonntage ganz ungemein mit Gasten angefiillt zu sein pflegte.
Diese Gaste hatten sich bei dem groBen Tumult durch die
Hintertiir, bei der die Magd des Hauses ohne alles Gerausch
die Einnahme besorgte, in den leeren Konzertsaal geschli-
chen. Dadurch war der Saal so voll geworden, daB unsre Hel-
den aufhoren muBten einzutreiben und sich selbst kaum zum
Fliigel hindrangen konnten.
Wie nun alle die Zusammengetriebenen da stehn, groBten-
teils gar nicht recht begreifen, w^as sie eigentlich da sehen
werden! Der eine vermutet eine Komodie, der andre ein Ma-
rionettenspiel, der dritte tanzende Hunde oder seltne Tiere,
indem er den Knaben von hinten fiir einen verkleideten Aff en
77
halt und die Tochter, die in einer Ecke steif am Tische sitzt,
fur eine redende Seejungfer. Endlicli versammlen sich nach
und nach die Musikanten wieder, die sicli so verloren in das
nachste Wirtshaus geschliclien.
Sigjntoke Picciolo ordnet unterdessen die Pulte — Hiite, an
Stuhle gebunden — und Tische una den Fliigel herum; reiBt
den Fliigel, zu dem kein Schliissel da war, mit Gewalt auf;
irrt eine Weile darauf herum, das a zu finden, wornach die
iibrigen nun in aller Eil stimmen sollen, zieht dariiber seine
Frau zu Rate, diese die Tochter, und endlich geben sie b an.
Darnach stimmen denn die andern nach Vermogen. Nachdem
sie so eine gute halbe Stunde gestimmt, beruhigen sie sich
einer den andern, es sei gut. Es stimmten aber wahrlich nicht
zwei zusammen. Der Hoboeblaser aber sagte mit gravitati-
scher Gebarjle: »Ja, wenn das so bliebe, sobald die Instru-
mente aber warm werden, verzieht sich's, und is alles hin.«
Einer von den Zuhorern aber, der die Stelle dichte hinter
den Waldhornistenhatte, der mit seinem Waldhorn iiber einen
halben Ton zu hoch stand, konnte sich nicht enthalten, um
nicht den ganzen Abend zu leiden, diesem sachte zu sagen:
»Sie stehn zu hoch.« Worauf dieser aber in der Meinung,
er benahm' ihm die Aussicht, ganz gelassen antwortete: »Las-
sen Sie das man gut sein, sobald die Kerls da ihren Hokus-
pokus anfangen, setz' ich mich nieder.«
Sigtstore Picciolo lief nun in der groBten Herzensangst
von einem zum andern, um eine Symphonie zu finden: Es war
aber keine da. Sie sahen sich deshalb genotigt, mit einer Arie
anzufangen. Die Alte sollte mit einer desperaten Arie au£-
treten. Da ihr dieses der kleine Picciolo auf den Zehen ste-
hend mit der rechten Hand iibern Kopf zuwinkte, schrie sie
ihm auf italienisch zu, er sollte ihr zwischen den Musikanten
und den Zuhorern gehorigen Platz machen. Nun wurde alles
aufmerksam. Der kleine Picciolo preBte die Musikanten,
78
soviel er konnte, gegen die Wand, und danri hinkte er mit
grafilichen Gebarden gegen die Zuhorer hin, die immer nach-
schoben, und schrie: »Platzen Sie, platzen Sie!«
Diese verstanden das nicht sogleich, nahmen's fur die erste
Vorstellung, beklatschten's und waren uber den narrischen
Kerl, der nun anfing, auf eine gar possierliche Art bose zu
werden, bald fiir Lachen geplatzt. Er fing aber an, die vorder-
sten zuriickzudrangen, und rief immerfort: »Platzen Sie, plat-
zen Sie!« Endlich verstanden sie's, zogen sich allmahlich zu-
riick und machten der Alten einen ziemlichen Platz.
Diese kam nun mit ihrem groBen, breiten Fischbeinrock
angeschifft und neigte sich nach hinten und vorne und nach
beiden Seiten gar sehr pathetisch. Ihr Anzug bestand aus
Kleidungsstiicken, die ihr von verschjLedenen sonst gespielten
Rollen ubriggeblieben waren, als aus der Semiramis^ der Ino,
der Marzia im Catone und dergleichen. Was sie sang, -war
eine sehr wiitende Arie aus dem >Orlaistdo Furiosck, die sie
mit mehr als italienischer Heftigkeit sang und agierte. Ihr
Mann stand mit dem Notenblatte hinter ihr und soufflierte;
denn sie muBte beide Hande frei haben, urn in der Luft Bau-
me zu ergreifen, sie grausam zu zerschiitteln, auszureiBen
und unter die Zuhorer zu werf en, auch sich nach Gelegenheit
wiitend fiir die Brust zu schlagen, die Haare auszurauf en usw.
Die Arie hatte kaum f iinf Minuten gedauert ; demohngeach-
tet aber war die Alte so abgemattet davon, daB sie SigpsTOKe
Pigciolo und die alte bucklichte Frau halb fur tot zu einem
groBen Stuhle hinfiihren muBten. Die Alte hatte in ihrer
Wut den Fliigel nicht vermiBt, und da sie in der Arie mehr
zu schreien als zu singen hatte, so wurd' ihr das Intonieren
eben nicht schwer. Nun aber die Tochter dran sollte, wurde
SiGisroRJE Pigciolo erst gewahr, daB der Fliigelspieler nicht
bestellt worden, und ohne Fliigel wrollte die Tochter nicht
singen.
79
Eigentlich glaubte sie wohl, durch diesen Ausweg fur heute
vom Singen, das so eigentlich ihres Amts nicht war, loszu-
kommen; all em der listige Vater hatte bald unter den Zu-
horern einen aufgefunden, der sich zum Akkompagnieren be-
quemte. Dieser wurde aber so wenig gewahr, daB der Fliigel
einen halben Ton tiefer stand als die iibrigen Instrumente,
und spielte tapfer drauflos. Was dem TJbel noch einen guten
Teil abhalf, war, daB der Fliigel durchaus sehr verstimmt
war, denn es liatte niemand dran gedacht, ihn stimmen zu
lassen, und daB also viele Tone zu den iibrigen Instrumenten
so zufalligerweise akkordierten.
Was aber weder zum Fliigel noch zu den Instrumenten stim-
men wollte, war der Gesang der Sigtntora Picciolo. Sie irrte
lange um den Ton herum, aus dem die Arie ging, und schloB
die Arie, ohn' ihn gefunden zu haben. Sie hatte aber mit
starren Blicken aus groBen, weit aufgerissenen Augen, und
mit niedergeschlagenen Augen, und mit halb umschleierten
Blicken, und mit verstohlnen Blicken aus dem linken Augen -
winkel hervor so gut abzuwechseln gewuBt, hatte die rotge-
farbten Lippen so mannigfaltig lacheln und spielen lassen,
die Schniirbrust so oft zu eng fur ihren Busen gefunden, daB
sie am Ende der Arie mit lautem Handeklatschen belohnt
wurde. Sie verneigte sich tief , die niedergeschlagenen Augen
auf ihren hervorgepreBten Busen geheftet, und wurde noch
einmal und noch starker beklatscht.
Der alte Picciolo vergaB mit einmal die Wut, in die ihn
Gulden gesetzt hatte, und hiipfte freudig der siegenden Toch-
ter entgegen. Er raunte ihr sachte ins Ohr, die Hauptabsicht
des Konzerts sei nun doch erfiillt. Die Mutter meinte aber
doch, sie erzeigten der Tochter gar zuviel Ehre.
Gulden hatte wahrend der ganzen Arie der Tochter des
Picciolo mit diesem einen gar sehr heftigen Rangstreit ge-
fiihrt. Er sahe die Ehre seines Virtuosen aufs empfindlichste
80
dadurch gekrankt, daB dieser erst als der dritte auftreten
sollte, und gebot dem Knaben, itzt gar nicht zu spielen. Die-
sem war das Gebot sehr willkommen, denn so wenig er sich
auch fur die groBe Menge von Zuhorern fiirchtete, so wenig
war ihm doch itzt spielerlich zumute, da seine Backen noch
von den Ohrfeigen des Vaters gliihten.
Pigciolo aber wollte rasend werden, da all sein Bedeuten,
all sein Zureden, sein Fluchen, sein Aufwiegeln der Zuhorer
nichts iiber den alten Gulden vermochte. Endlich aber fand
dieser selbst ein bequemes Mittel, sich zu liberreden. Er tat
den Vorschlag, daB seinem Knaben die gekrankte Ehre da-
durch repariert werden miiBte, daB fiir ihn unter den Zuho-
rern eine besondere Kollekte gesammelt wiirde. Nach lan-
gen Debatten wurde das zugegeben. Nun wurde der Knabe
auf denTisch gestellt und spielte sein tausendkiinstliches Solo.
Kaum stand der Junge auf dem Tische, so wurde er unmaBig
beklatscht. Dieses verdoppelte sich beim Ende des ersten Alle-
gros, welches er aber aus Scham fiir seine Stellung und fiir
das Handeklatschen mit einiger Verlegenheit spielte. Wie er
aber das Adagio anfing, erstaunten alle und selbst sein Vater
so, daB sie verstummten. Noch nie hatte er mit so vieler
Empfindung gespielt. Es klatschte auch wirklich kein einzi-
ger. Viele blieben starr ihn anblickend stehen. Einige mur-
melten sich sachte in die Ohren. Wohl mancher wischte sich
die Tranen ab. Er hatte wirklich alle bis auf den gemeinsten
Pobel geriihrt.
Gulden begriff's nicht. Aber der alte Pigciolo fiihlte den
Grund. Er hatte bemerkt, daB der Knabe im ersten Allegro
die zehnjahrige Tochter ihres Wirts einigemal anblickte und
jedesmal fiir Scham iiber und iiber rot wurde. Beim Anfange
des Adagios hatte er nur mit halbem Blick hingesehn, ob sie
noch da sei, und dann nicht mehr hingesehen, als da es zu
Ende war, alsdann sie aber auch ganz offen angeblickt und,
81
da er Tranen in ihren Augen sah und sie beschamt nieder-
blickte, selig auf ihrem Gesichte verweilt.
Nun spielte er die letzte Menuett mit Variationen, worm
das ganze Paradies redend eingefuhrt war, aber mit weniger
Lebhaftigkeit und Gaukelei, als er's wohl sonst schon gespielt
hatte. Das Bravoruf en und Handeklatschen nahm kein Ende,
bis der alte Gulden mit dem Hute des Knaben die Einsamm-
lung begann. Die meisten gaben recht gerne ihr Scherflein
dazu. Nur die, die kein Geld hatten, fanden's impertinent,
druckten die leeren Finger tief in den Hut und machten groB
Aufhebens iiber die Geldschneiderei. Wohl iiberzahlt kam
noch fur den Knaben sechs Taler sects Groschen zusammen.
Nun erschien Signore Picciolo in einer komischen Ak-
tionsarie. Wahrend des Solos hatte er seinen Anzug verandert.
Er erschien in einer Kleidung, in der er auf den groBten
Theatern in der Welt den Dokter Pandolfo gespielt haben
wollte. Eine weifie, hoch aufgekrauselte Periicke von Ziegen-
haaren bedeckte seine Stirne, Ohren und den groBten Teil der
Backen. Hinten war sie mit einem seidenen rosenroten Bande
hoch aufgebunden. Ein kurzer Rock mit hoher Taille und stei-
fen SchoBen, mit Goldpapier statt Tressen auf alien Nahten
besetzt und groBen Aufschlagen von bemaltem Blech statt
Silberstoff, stand ihm steif von dem Nacken bis an die Knie-
kehle eine halbe Spanne um den Leib herum. Die lange, fast
bis an die Knie reichende Weste und engen, uberm Knie
sich schlieBende Hosen w^aren von Loschpapier, besetzt mit
einem kompletten Spiel Karten. Sehr witzig waren die Ko-
nige und Damen und Buben, jeder nach seiner besondern
Spielfahigkeit, placiert. Coeur- As stand auf dem Herzen. Da-
zu hatte er rote Strumpf e mit goldenen Zwickeln und Schuhe
mit hohen roten Absatzen. Noch einen sehr groBen Hut, mit
einer starken roten Feder besetzt, untermxArm und einen kl ei-
nen porcelainenen Degen zwischen den Waden schlenkernd.
82
So stiirzte er voller Wut aus dem nahheranstoBenden Kaf -
feezimmer heraus, und unterdessen das Ritornell ziemlich
lange fortdauerte, agierte er mit ganz abscheulicher Wut auf
die Tiire zu, bis endlich am Ende des Ritornells aii einem
kleinen Gitterfenster uber der Tiire des Kaffeezimmers seine
Schone erschien. Diese war niemand anders als das alte buck-
lichte Weib in einem griinen Tiroler Sonnenhut; da zer-
schmolz seine abscheuliche Wut in noch abscheulicherer Zart-
lichkeit, und er malte seiner Schonen das machtige Klopfen
seines Herzens. Es ging tippe tappe, tippe tappe, tippe tuppe,
tippe tappe, tippe tuppe, tippe tappe — ■
Dieses waren die Worte zur ganzen Arie, die fast eine
Viertelstunde dauerte. Wohl einige tausendmal wurden diese
Worte wiederholt, und der Kerl pfiff und sang und schrie und
briillte alle Tone in der Natur durch. Im Anfange war es das
Pfeifen der kleinsten Maus, und so durch alle Grade durch,
daB es am Schlusse das heftigste Briillen eines briinstigen
Stiers wurde. Er war auch so ganz in seinem Himmel, daB er
lange noch fortschrie, da die Musikanten schon fiir baucher-
schiitterndes Lachen zu spielen aufgehort hatten.
Was im Anfange seine zartliche Wut noch komischer
machte, war, daB sich die groBen starken Kerls von ihren No-
tenpulten immer zu ihm hindrangten und ihn umzingelten,
um den kleinen, zetergewaltschreienden Kerl ins Gesicht zu
sehen. Wobei er dann unablassig hinten und vorne und zu
alien Seiten ausschlug, um sich Platz zu machen, und zwi-
schenein immer schrie: »Platzen Sie, platzen Sie, tippe tuppe,
tippe tappe, platzen Sie, tippe tuppe, platzen Sie, platzen
Sie — «
Nun sollte nach dem Gange der Arie der Sohn des Dokters
aus dem Hause seiner Schonen erscheinen, damit der Vater
wieder in seine erste Wut geraten und sich der Akt mit einem
bravourvollen Duett endigen konnte. Der Sohn hatte aber Te-
83
nor zu singen, und dazu wollte sicli keiner in der Stadt finden
lassen. Der Alte, der gerne jede Gelegenheit nutzte, seine
Aufzuge immer komischer zu machen, hatte einen jungen
Menschen von der Musikantenbande, der das Fagott blies,
dahin beredet, die Singepartie des Sohns au£ dem Fagott zu
blasen, und stellte ihm sein Pult unter das Fenster seiner
Schonen. Wie dieser nun in der Unschuld seines Herzens die
Partie des Sohns zu blasen anfangt, geht Picciolo mit Tiger -
wut au£ ihn los und zerarbeitet sich gar grimmig gegen den
Fagott. Der junge Mensch war fur Schreck fast in die Knien
gesunken und spielte daher, ohn es zu wissen, desto natiir-
licher die Rolle des ersehrocknen betroffnen Sohnes.
Der groBte Teil der Zuhorer war mit dieser Vorstellung
ganz vorziiglich zufrieden und lieBen ihren sehr lauten Bei-
£all erschallen. Der eine schrie wahrend dem Klatschen: »Das
is 'n verfluchter Kerl«, der andre: »Potz Geek und kein
Ende« J noch ein andrer : »Der Kerl hat den Teufel im Leibe.«
Gegen all die Lobeserhebungen verneigte sicb. Picciolo mit
unbeschreiblicher Selbstgef alligkeit und Behaglichkeit.
Die denn aber unter den Zuhorern nur einigermaBen Oh-
ren hatten, waren, ohnerachtet sie iiber den narrschen Kerl
im Anfange herzlich lachen muBten, gar sehr froh, daB das
Blitzhagelzetergeschrei einmal ein Ende hatte. Unter diesen
war auch ein Mann, der sich an solchen Possen in seinem Le-
ben schon satt gesehen und satt gelacht hatte, hier also unge-
riihrt geblieben; der auch ubrigens die Eigenschaft hatte, daB
er, wenn er einmal sein Stiick Geld wozu anlegte, schlechter-
dings in nichts anders Vergniigen finden konnte als gerade
daran, wozu er das Stiick Geld angelegt. Dieser hatte von An-
fang des Konzerts an eine sehr unzufriedene Miene gemacht
und wahrend der Arie des Picciolo sein groBes MiBfallen
gar deutlich bezeugt. Demohngeachtet rief er am Ende der
Arie ganz allein sehr ernsthaft: »Da capo!«
84
Die ubrigen, die ihn kannten, wunderten sich, argerten
sich auch, daB sie das Geschrei noch einmal horen sollten. In-
dessen nahm Signore Piggiolo, so atemlos und wassernaB er
auch war, die Einladung rait groBen, bockspringigen Biick-
lingen auf und hub seine Arie von neuem an. Auch nicht
ganz unvorbereitet; denn nun fing er beim Briillen des briin-
stigen Stiers an und horte mit dem Pf eif en der Maus auf. Er
war aber schon zu sehr entkraftet, als daB er das Herz seiner
vorher gefiihrten, erschiitterten Zuhorer abermals mit Sturm
hatte einnehmen konnen. Auch wollte sich der junge Mensch
nicht mehr zur Partie des Sohnes bequemen, und der keu-
chend wutende Alte ergriff mit Freuden diese Gelegenheit,
sein Leben zu retten, und brach da, wo das Duett einfallen
sollte, wohlbedachtig ab.
Das erregte nun unter den vorher lautgewordenen Zuho-
rern groBes MiBfallen, und er blieb vollig unbeklatscht. Die
ubrigen waren froh, daB es zu Ende war. Indem ruft derselbe
ernsthafte Mann noch einmal: »Da capo!« Piggiolo, der
kaum mehr auf den Beinen stehen kann, vermag nicht die
hohe Ehre von sich abzuweisen und riistet sich schon, zum
dritten Male anzufangen. Da sich aber die ubrigen Zuhorer
alle dawider emporen und alle mit Verwunderung und Ver-
druB nach dem aufgericht stehenden Mann hinsehen, sagt 7
er ganz kalt: »Ich dachte, die Bestie sollte krepieren.« Wie
nun dem kleinen Kerl alle mit Gewalt in die Hohe getriebe-
nen Muskeln sanken! wie er tief in den Boden blickend da-
vonschlich! —
Nach der vorherbestimmten Ordnung sollten nun die Frau
und Tochter ein Duett singen; allein sie waren beide in sol-
chem entsetzlichen Husten begriff en, daB sie in Gefahr wa-
ren, zu ersticken. Es hatten namlich alle die Herren, die sich
aus dem Kaffeehause zur Hintertiire hineingeschlichen, sich
so sachte ihre Pfeifen und Bierglaser zum Fenster hinein-
85
reichen lassen, sich da im Hintergrunde des Saals mit ihren
Schonen niedergelassen und trieben da ihr Wesen. Da die
Herren nun aber allesamt keine kalte Pfeifen rauchten, so
entstand sehr bald ein solcher greulicher Dampf im Saale,
daB alles in einem dicken Nebel gehiillt war. Dieses war nun
der entkrafteten Alten, die mit starken Ziigen nach Luft
schnappte, gar sehr auf die Brust gefallen, ebenso der eng-
schnurbriistigen Tochter.
Signore Pigciolo eilt in der grofiten Angst seines Her-
zens zum Saal hinaus, um den alten Bedienten fur die Ratz
und fur die Zahn zur Hiilfe zu rufen, findet diesen aber von
einer groBen Menge Menschen umringt, wie er eben im Be-
griff ist, einem Polen den Zahn auszuziehn. Er hatte hier im
Vorhause wahrend des Konzerts sein Theater aufgeschlagen,
und dies war schon der siebente Zahn, den er morderlich an-
packte. Es hielt mit diesem schwer, und er konnte also auf
alles Zuschreien des Signore Pigciolo, der sich mit seinem
»Platzen Sie, platzen Sie« nicht durchdrangen konnte, nicht
viel geben. Bis denn endlich der zweite Angriff gelingt und
der Kerl zwei Zahne fur einen herausbringt. Da stehen sie
nun beide in groBer Verlegenheit gegeneinander. Der Zahn-
brecher in Angst fur Priigel, der Pole in Furcht, der Kerl
wurde nun fur zwei Zahne Bezahlung fordern, da er doch
nur fur einen Geld bei sich hatte.
Unterdessen hatte des Pigciolo unbandiges Geschrei die
meisten Zuhorer aus dem Saal ins Vorhaus gelockt, und das
Konzert verlor sich so in sich selbst. Einige junge Herren wa-
ren zuriickgeblieben, um der leidenden Schonen hulfreiche
Hand zu leisten, und verlor en sich in Werken der Liebe zum
Nachsten.
Gulden hatte sich sogleich beim Ende der Arie mit den
ubrigen Musikanten in die Biervorratskammer zurxickgezo-
gen, fiir deren Anfiillung Rothbart den ganzen Tag vorher
86
treulich gesorgt hatte. Itzt machte er den Mundschenk und
trank den Gasten mit Prost zu.
Unser Knabe und sein kleines liebes Madchen, die solange
Hand in Hand stumm nebeneinander gesessen hatten, waren
urn die in Ohnmacht gesunkene Alte beschaftigt und schniir-
ten ihr in der Unschuld ihres Herzens die Schniirbrust auf .
Dabei kam ihnen einer von den jungen Leuten, der sich nicht
hatte vor die andern bis zur Demoiselle hindrangen konnen,
zu Hiilfe.
So fand es Signore Picciolo, da er mit seinem Arzt fur
die Ratz und fiir die Zahn ankam, welcher denn auch die
Darniederliegenden mit einem GuB kalten Wassers ins Ge-
sicht gar bald aus ihrer Ohnmacht weckte. Signore Picgiolo
war sehr dankbar gegen die menschenfreundlichen jungen
Herren und notigte sie den Abend in sein Logis. Viere von
den Herren nahmen die Einladung an und begleiteten die
Damen.
Gulden war schwer von den Bouteillen wegzubringen. Da
indessen der alte Picgiolo versicherte, er habe ein f eines Sou-
per veranstaltet, lieB er sich bewegen mitzugehen.
Unser Knabe fiihrte sein kleines liebes Madchen bei der
Hand. Es war wurklich ein liebes blondes blauaugigtes Mad-
chen, die, in aller Unschuld und Einf alt erzogen, nichts wuBte
als ihren Katechism, stricken, mit der Nadel sticken und Blu-
men pflanzen. Da sie nach Hause kamen, gingen sie beide in
den Garten der Kleinen. Der Vater hatte ihr einen kleinen
Teil seines Gartens zum Blumenpflanzen eingeraumt, und
da pflegte sie sich die Blumen, die sie gerne sticken wollte, so
zu pflanzen und sie, wenn sie aufgebluht waren, hubsch bunt
durcheinander in einen StrauB zu binden, den dann so zum
Vorbilde auf ihren kleinen Rahmen zu legen und darnach zu
sticken.
So gerne sie auch auf'm Hofe oder iibrigen Garten mit
87
andern^Kindern und besonders mit kleinen Knaben spielte,
so ungern und selten nahih sie sie docli mit in ihren kleinen
Garten. Sie wollten denn da man immer so die Blumen ha-
ben, rissen sie oft ab, eh sie reclrt aufgebliiht waren, und
dann hatten sie sie nicht einmal so recht lieb. Nein, nein, so
gerne sie auch ihre auf Leinewand gestickte Blumen ver-
schenkte, so ungern gab sie eine Blume vom Stocke; sie ver-
taus elite vielmehr sehr oft mit andern Kindern ihr Fruhstiick
oder Vesperbrot gegen Blumen.
Sonderbar war's aber, wie sie unsern kleinen Heinrich so-
gleich den ersten Abend in ihren kleinen Garten fiihrte, ihm
all ihre Blumen zeigte und, wie sie lang umsonst gewiinscht
hatte, daB Heinrich sie um Blumen bitten mochte, dieser aber
immer so furchtsam bescheiden tat, immer uber die Blumen
hinsah, wenn sie ihn freundlich anblickte, wie sie ihm da
einen allerliebsten StrauB von den besten Blumen pfliickte
und ihn, nachdem sie sie lange unentschlossen in der kleinen
Hand getragen, um seinen Hut bat, er miiBte aber auch nicht
hinsehn, und sie ihm an den Hut steckte, und wie er xiber und
uber rot wurde und zitterte, da sie ihm den Hut aufsetzte.
Ihr war's, als wenn sie weinen und lachen sollte. Auch
fand sie den Abend zum ersten Male, daB sie ihre kleinen
FuBsteige zwischen den Blumenbeeten viel zu schmal ge-
macht hatte; denn Heinrich muBte immer hinter ihr her
gehn, und sie hatt' ihn doch so gerne zur Seite gehabt.
Es war kurz vor Untergang der Sonne, da Friederike un-
sern Heinrich zum ersten Male in ihren Garten fiihrte. Mit
der untergehenden Sonne stieg der voile f eurige Mond in die
Hohe. Die Kleinen, die nur sich und den Blumen lebten, hat-
ten weder das Untergehen der Sonne noch das Aufsteigen des
Mondes bemerkt, bis endlich Friederike in ihrer eitlen Ge-
schaftigkeit, mit der sie um den Heinrich herumsprang, bald
hier ein verdorrtes Blatt abriB, bald dort einen Blumenstock
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in die Hohe richtete und ihn befestigte, bald mit ihren klei-
nen Fingern die Erde unter den Blumen aufwiihlte, ob sie
auch zu trocken sei, und dabei Heinrichen f est und heilig ver-
sicherte, man konnte gar nicht vorsichtig genug mit den Blu-
men umgehn, eh man sich's versahe, hatten sie einen Pips weg
bis sie, wie sie so recht keck einen durren Zweig abreiBen
will, eine ganze Blumenstaude samt ihrer Wurzel ausriB,
und
Friederike (das Gesicht mit den kleinen Handen bedeckt,
den Kopf herabgeneigt, dann die Hande, von den fiir Scham
gliihenden Backen herabgleitend, tief gefaltet und hinauf an
den Himmel blickend): Ach ich dummes, dummes Madchen!
(Sie erblickt den noch feuriggliihenden Mond.) Aber mein
Gott, sehn Sie doch nur, lieber Musje Gulden, die Sonne steht
ja jetzt holier als erst, da wir in den Garten kamen.
Heinrich: I je! — Aber es mag wohl nicht die Sonne sein. —
Doch aber der Mond kann's ja auch ohnmoglich sein, das ist
viel zu rot.
Friederike: Nein, der Mond kann's ohnmoglich sein, denn
bei Mondschein geh' ich niemals in den Garten.
Heinrich: Nee, nee, es ist die Sonne.
Friederike: Sehn Sie nur, lieber Musje Gulden, das hat mir
mein Papa verboten, bei Mondschein soil ich kein einziges
Mai in den Garten gehn. Ach, und ich ginge zuweilen so
gerne! Aber er hat's verboten —
Heinrich: I mein Gott, warum denn?
Friederike: Ja, das weifi ich nicht, das hat er mir nicht ge-
sagt; er sagte wohl einmal was von Erkalten, aber das kann's
wohl nicht sein, denn ich sitze ja oft mit ihm und der Mama
bis zehn Uhr vor der Tiire, da unter dem grofien Kastanien-
baum, wo die Bank daruntersteht. Mein jiingster Bruder und
die jiingste Schwester sind denn schon lange zu Bette, aber ich
geh nur erst, o das ist wohl schon — wohl schon fast ein gan-
89
zes Jahr, daB ich erst zu Bette gehe, wenn Mama und Papa
geht. Nur in den Garten- darf ich des Abends nicht gehen.
Papa sagte auch wohl einmal was von ehrlichen Madchen,
aber das hab' ich ihm nicht recht verstanden. I nun, er mufi
doch so seine Ursachen haben, denn das glauben Sie mir nur,
mein Papa hat mich recht lieb, er tut mir auch recht viel zu
Gefallen, das kann ich nicht anders sagen.
Heinrich: Hat er Ihnen denn den Garten geschenkt? Krie-
gen Sie alle Blumen zu behalten?
Friederike: O ja, ich kann mit machen, was ich "will, und
da hat sich keiner was drum zu bekiimmern, daB ich Ihnen
einen StrauB gegeben. Nein, das muB wahr sein, mein Papa
tut mir recht viel zu Gefallen; ich miiBte liigen, wenn ich das
anders sagte; aber wenn ich denn auch einmal ungehorsam
bin, denn ist er auch sehr scharf % ach, sehr scharf .
Heinrich (sie angstlich mit beiden Handen beim Arm er-
greif end und sachte f ortschiebend) : Ach, denn gehn Sie doch
nur lieber gleich herein, auf alien Fall, daB es der Mond ware.
Friederike (die des Heinrichs sonst so freies, offnes Ge-
sicht mit einmal so angstlich verzogen sieht, blickt ihn mit
fragenden Augen und halbgeoffneten Lippen an, wird blaB
und weiB nicht, ob sie gehn oder bleiben soil).
Der Voter (am Fenster mit der vorgesteckten Serviette,
laut) : Friederike!
Friederike (sich zusammennehmend) : Gleich, liebes Papa-
chen. Ich will nur einen gelben Veilchenstock noch anbin-
den.
Heinrich (mit angstlicher Stimme sie treibend) : Ach las-
sen Sie das doch nur, kommen Sie doch nur, liebste
Friederike: Nun gut, ich will das lieber auf morgen friih
lassen. (Forteilend) Ich will morgen recht friih, recht friih in
den Garten gehn. Sieschlafen aber wohl lange?
Heinrich : Ja O nein
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Und nun war Friederike in der Stube, und Heinrich horchte
an der Tiire und sah durchs Schliisselloch, ob sie auch un-
freundlich empfangen wiirde. Der Vater hatte aber ihr un-
schuldiges Gesprach am Fenster mit angehort und lieB es bei
einer gelinden Ermahnung bewenden. Heinrich ging nun
langsam die Treppe hinan und vergaB, die zweite Stufe im-
mer, wie gewohnlich, zu iiberspringen.
Beim Schlaf engehen nahm er sich fest vor, den f olgenden
Morgen urn funf Uhr aufzusteben und in den Garten zu ge-
hen. Dariiber konnt' er gar nicht einschlafen bis endlicb ge-
gen Morgen, da iiberfiel ihn der Schlaf, und er schlief bis
sieben. Da sprang er, bos au£ sich selbst, schnell aus dem Bette,
zog sich, fur Unwillen weinend, ganz still an und schlich
sachte zur Tiir hinaus und nun heidi in den Garten.
Friederike war schon bald eine Stunde im Garten und war
all Augenblick an die Gartentiire gelaufen, zu sehen, ob er
noch nicht kame. Da er kam, war sie eben von der Tiire weg
in den Garten gegangen. Nachdem Heinrich eine Weile un-
entschlossen an der Gartentiire gestanden, trat er, ihr so ganz
unerwartet, in die Tiire. Sie war eben wieder im Begriff , an
die Tiire zu laufen, lauft auf ihn zu und fallt ihn recht freu-
dig um den Hals. Kaum hatte sie aber mit ihren Lippen ihn
beriihrt, als sie schnell zuriickflog, ihr gliihendes Gesicht mit
der kleinen Schiirze bedeckte und beschamt mit halber Stimme
sagte : » Ach mein Gott, ich dacht' wohl gar, es war mein jiing-
ster Bruder.«
Heinrich (mit zitternder Stimme): I das hat ja nichts zu
sagen — I das kommt ja wohl.
Ich halte mich f iir einen Teil meiner Leser vielleicht schon
zu lange bei diesen mir so lieben unschuldigen Szenen auf, ich
will deshalb nur noch sagen, dafi den beiden lieben Kindern
seit der Zeit immer herzlich bange war, wenn sie nicht bei-
sammen sein konnten. Friederike suchte sich denn immer, so-
91
viel sie konnte, von ihren Geschwistern und Gespielinnen los-
zumacKen, und muBte sie unter ihnen sein, so pflegte sie ganz
ausgelassen viel zu lachen; denn weinen wollte sie doch nicht
gerne vbx denAugen der andern. Ihren jtingsten,aclitjalirigen
Bruder gewann sie nun besonders lieb und nahm ihn sehr oft,
wenn Heinrich nicht da war, mit sich in den Garten, und
dann herzte und kiifite sie ihn so viel und besehenkte ihn mit
Blumen, daB der seines Bleibens nicht wufite. Heinrich aber,
der am Tage die meiste Zeit oben in der verschlossenen Kam-
mer, die leider nicht nach dem Garten ging, die Geige iiben
mufite, kam immer von dem vor sich habenden Stiick ab und
fiel so in eigene Phantasien, die gemeinhin in den traurigsten
Molltonen herumirrten.
Konnten sie aber nur irgend von ihren Eltern sich losbitten
oder sich davonschleichen, so waren sie zusammen im Garten.
Und dann war ihnen so wohl. Heinrich leistete seiner lieben
Kleinen in ihrer Vorsorge fur die Blumen fleiBig hiilfreiche
Hand. Er trug ihr das Wasser herbei; er machte ihr das kleine
Zuschlagemesser, womit sie die Blumen zu beschneiden
pflegte, auf und zu; er richtete sie sehr besorgt und sehr ge-
schwind auf, wenn sie beim Knien vor den Blumen niederfiel,
und putzte ihr den Staub von den Kleidern
Auch trieben sie miteinander allerlei unschuldige, kin-
dische Spiele und waxen dann so seelenvergniigt dabei, daB
sie oft Essen und Trinken druber vergaBen. Wenn sie dann
so vom Ballspiel oder Wettlauf en oder Kreisel- und Tonnen-
bandschlagen sehr erhitzt waren, dann f achelte einer den an-
dern mit seinem Tuche ktihl. Bisweilen nahm wohl auch Frie-
derike ihre kleine Schiirze dazu, die reichte dann aber nicht
recht in die Hohe, und da muBte Heinrich ins Gras nieder-
knien. Wie sie dann schon bekannter miteinander waren, sich
schon Schwester und Bruder nannten — es geschah so ziemlich
in den ersten Tagen — , da zog dann wohl Heinrich seine kleine
92
Schwester zu sich ins Gras, und sie riB dann Grashalme aus
und bewarf ihn damit, und er - tat dasselbe, bis sie wieder
ganz erhitzt waren.
Obgleich sie. nun nicht die geringsten Heimlichkeiten bei
ihren Spielen hatten, so war ihnen doch ihr ganzes Vergnii-
gen verstort, sobald sich. andre Kinder dreinmischten, und ge-
meinhin priigelte sich dann Heinrich mit alien Jungens her-
um, und Friederike weinte sich oft bei solchen gemischten
Spielen die Augen ganz rot, daB Heinrich ihr dann, eh sie
hineingingen, die Augen behauchen muBte, damit sich die
Rote verlor.
Mit Gewalt reiB' ich mich vom Bilde der Unschuld los, una
die Geschichte des Konzertabends zu verfolgen. Es war acht
Uhr, da Gulden mit dem Signore Picciolo, dessen Familie
und Gasten, zu denen noch die Tochter zwei haBliche Mad-
chen von ihrer Bekanntschaft eingeladen, in das Zimmer des
Signore Picciolo ankam. Da dieser erst die Tauben, die den
Abend verzehrt werden sollten, selbst braten muBte, so schlug
die Tochter zu Ausfiillung der Zwischenzeit ein kleines Pha-
raospiel vor. Die jungen Herren sogen das zuckersiiBe La-
cheln von ihren zinnoberroten Lippen und die wohlverteilten
Seitenblicke aus ihren spielenden Augen begierig ein und
spielten schon im Geiste.
Die Mutter lieB sich vom alten Gulden fiinf Taler kleine
Miinze geben, den Friedrichsdor dafiir wollte sie hernach aus
dem Schrank holen, und machte die Bank. Da ihr selbst das
Abziehen zu beschwerlich wurde, so muBte der alte Bediente
fur die Ratz und fur die Zahn, der auch fur die Narr ausge-
lernt war, das Geschaft iiber sich nehmen. Die Alte mischte
die Karten. Der geringste Einsatz gegen diese Bank von fiinf
Talern sollte ein halber Gulden sein.
Die hochst unerfahrnen jungen Leute merkten nicht ein-
mal auf die alten klebrichen Karten, mit denen abgezogen
93
wurde, viel weniger au£ die f einen Betrugskiinste und besetz-
ten ihre Karten, die ihnen die junge Signora in groBer
Menge aus ihrem Buche herauszog, gar fleiBig. Ihr Spiel war
bald geteilt in Karten, die sie fur die Damen und vorziiglich
fur Sigistora Piggiolo besetzten, und in andere fur sich. Die
Herren hatten auch eine so gliickliche Hand, daB die Karten,
die sie fur die Damen besetzten, immer gewannen, wahrend-
dessen die ihrigen flogen, als waren sie mit Quecksilber ge-
fiillt. Was sie aber auch wieder an f einen und groben Gunst-
bezeugungen gewannen! Die ganze junge Signora war von
der FuBspitze bis zur hangenden Locke am Halse fur sie in
Bewegung.
Gulden hatte anf anglich nur zugesehn, aber bald gefiel ihm
das Spiel so gut, daB er rief : »He, frisch gewagt is halb ge-
ivonnen!« und einen harten Taler auf die Dame setzte, die
ihm die alte Signora mit liebegrinzenden Augen hinreichte.
Und siehe, Gulden gewinnt seinen Taler. Die Alte beredet
ihn zum Paroli, aber Gulden meint : »Ein Haben is besser als
zehn Kriegen«, und laBt sich seinen Taler bezahlen. Besetzt
aber den Buben von neuem, mit einein harten Taler, und ge-
winnt den auch. Nun sieht er, daB das Spiel ihm wohlwill,
nimmt einen Stuhl und spielt ordentlich mit, und um die
gliickliche Stund recht zu nutzen, setzt er einen Friedrichsdor
auf die Dame, die wahrend, daB er sie unbesetzt li^B, zwei-
mal auf die rechte Hand gef alien, nur noch einmal drinnen ist
und auf heimliche Eingebung der jungen Sigistora von alien
eifrigst besetzt wird. Aber die verliert und bringt der Bank
iiber drei Friedrichsdor, denn die jungen Herren hatten ihr
Spiel auch schon lange doubliert.
Nun ging's, wie es mit unerfahrnen Spielern bei Hasard-
spielen immer zu gehen pflegt, von alien Seiten hitziger. Gul-
den verlor immer mehr und mehr und fluchte dabei alle Teu-
fel und alle Heiligen zusammen. Einmal gewann er und
94
zehnmal verlor er. Wie er schon gegen zwolf Friedrichsdor
verloren hatte, schrie er nach seinem Heinrich, der schon bald
eine Stunde, da er seine liebe Friederike hatte verlassen miis-
sen, hinter des Vaters Stuhl stand und mit groBer Begierde
dem Spiele zusah. Gulden rief ihn, um zu versuchen, ob der
Knabe eine gliicklichere Hand hatte. Dieser muBte daher die
Karten fur den Vater ziehen und selbst welche mit einem hal-
ben Gulden besetzen.
Die alte Signora, die den Gulden fur die Zukunft noch
aufsparen wollte, hielt es fur das beste Mittel, ihn einiger-
mafien zu besanftigen, daB sie den Jungen einige Taler ge-
winnen lieB. Da sie aber merkte, daB die jungen Herren schon
heimlich voneinander Geld liehen und daB sie alle nicht mehr
recht eifrig besetzten, lieB sie dem alten Picciolo wissen, daB
seine Tauben nun f ertig sein konnten, sie war mit den Scha-
fen schon f ertig. Signore Picciolo gab ihr seine Herzens-
freude daruber durch ein lautes Hahnenkrahen zu erkennen
und kam, da Heinrich zur grofien Freude seines Vaters eben
im besten Gewinn war, den Tisch, worauf sie spielten, zu dek-
ken. Die Alte wies ihn zornig ab : Ob er nicht wiiBte, daB das
von den Herren dependierte, die im Verlust waren. Die Her-
ren hatten aber ihrer leeren Taschen und gespitzten Mauler
wegen schon langst das Ende des Spiels gewiinscht, und Gul-
dens feurige Protestation wider 's Essen half also nichts. Es
wurde gedeckt und gegessen. Beim Essen sprach die junge
Sigjntora von Champagner und ungarischen Wein, die Alte
meinte aber, Cardinal ware jetzt besser, dahingegen Picciolo
behauptete, man miiBte in dieser Jahreszeit nichts als Selzer-
wasser mit Rheinwein trinken. Wahrend dieser Rede schlich
sich einer von den jungen Herren hinaus, die andern wink-
ten ihm zu und bestellten unten beim Wirt fur ihre Rech-
nung Champagner, ungarischen Wein, Cardinal, Selzerwas-
ser und Rheinwein hinaufzubringen. Daruber war nun Pic-
95
ciolo und seine ganze Familie iiber alle MaBen beschamt
und bfetroffen, auch konnten sie gar nicht so recht herzhaft
von den schonen Weinen eingieBen, und es blieb wohl iiber
die Halfte stehen. Wurde wohl aufgehoben.
Gulden und die alte Signora batten's sicb allein recht gut
schmecken lassen; und da der eine voll Wut, die andre voll
grofier Freude ans Werk gegangen, so waren sie beide sehr
bald himmeldick besoffen. Gulden lieB seine Wut in ganz des-
peraten Karessen an die Alte aus. Die Alte lieB sich aber nicht
grausam finden. Bald waren sie ganz miteinander beschaftigt.
Der alte Picciolo, nachdem er seiner Tochter die Klug-
heit eingescharft, gegen die freigebigen jungen Herren ja
hochst sparsam mit ihren Gunstbezeugungen zu sein, setzte
sich hinter den Of en und schlief ein.
Die Tochter, die selbst wohl einsah, wie sehr ihr dauernder
Vorteil davon abhing, daB die jungen Herren ungesattigt
blieben, suchte die iibrige Gesellschaft immer soviel moglieh
zu vermischen und schlug endlich Pfanderspiele vor. Unser
Heinrich wurde auf Verlangen eines der haBlichen Madchen
mit dazugezogen. Dies e war von den jungen Herren den
Abend iiber gar zu sehr zuriickgesetzt worden, und deshalb
hatte sie zu etwanigen Ersatz den kleinen Heinrich in Affek-
tion genommen und lehrte ihm bei Tische, da das Kiissen die
Reihe herumging, wie er recht zierlich und zartlich kiissen
miiBte
Sooft ich an dergleichen Szenen komme, die unserm lieben
Knaben seine gliickliche Unschuld immer mehr und mehr
rauben und so den Samen zu seinem kiinftigen Ungliick
streuen, entfallt mir die Feder: ich kann, ich mag solche Sze-
nen nicht ausmalen. Leser, die die Welt kennen, kennen auch
die groben und feinen Kiinste solcher elender Weibsstiicke.
Denen aber, die das unschatzbare Gliick noch besitzen, die
Welt nicht zu kennen, denen mocht' ich sie um alles in der
96
Welt nicht naher kennen lehren, als es notig ist, sie darauf
aufmerksam zu machen, damit sie sie fliehen und verab-
scheuen; und haben sie Kinder, die sie in die groBe Welt sto-
Ben miissen, diese beizeiten dafiir bewahren, sie ihnen fliehen
und verabscheuen lehren.
Es war zwei Uhr des Morgens, da die jungen Herren das
Haus verlieBen. Der eine, ein kurlandischer Student, nahm
eine noch nicht bezahlte goldene Uhr und der andre, ein pohl-
nischer Fahnrich, einen ebensowenig bezahlten brillantenen
Ring weniger mit heraus, als er hineingebracht hatte. Auch
hatte dort unter diesen beiden die Eifersucht ihren verderb-
lichen Samen gestreut, und mancherlei Stichelreden hatten
ihnen schon oft gegenseitig das Blut zu Kopfe getrieben und
die Hand zum Degen gefuhrt, den sie denn aber doch aus Re-
spekt gegen die Signoka steckenlieBen. Kaum aber waren sie
auf der StraBe, so ging der Krakeel von neuem an, und es
wahrte nicht lange, so schimpften sie sich, zogen vom Leder
und hieben sich auf dem Markte. Der Fahnrich bekam eben
eine Schramme iiber die Nase, als die Rathauswache dazukam
und die Herren allesamt, die beiden Kauf diener nicht ausge-
nommen, arretierte. Sie setzten sich anf anglich zur Wehr, der
Kurlander verwundete auch einen Soldaten sehr schwer, zu-
letzt behielt' aber die Wache die Oberhand, und sie wurden
nach der Wache geschleppt.
Was ihre Lage in der Wachstube vollig abscheulich machte,
war, daB sie alle ganz ohne Geld waren. Der alte Bediente fur
die Ratz und f iir die Zahn, oben an der Treppe, und das buck-
lichte Weib, unten an der Ture stehend, hatten ihnen noch
das letzte Silbergeld zum Trinkgeld abgebettelt. (Ihrer bei-
derseitiges Gehalt bestand eigentlich in solchen Einnaiinien.)
Da von den Soldaten keiner, ohne vorher bezahlt zu sein, zum
Barbier gehen wollte,so muflte mein Herr Fahnrich dieNacht
iiber unverbunden bleiben. Doch was kummert mich deren
97
ganzer ProzeB, der ihn en nachher die Holle noch. selir helB
machte!
Unterdessen die jungen Herren in der Wache schmachteteii
und im Herzen wiiteten, ging's in der Wohnung des Picciolo
gar lustig her. Dieser, der wahrend des ganzen Kommerzes
keinen Augenblick geschlafen, obsclion er die Augen immer
f est zuhielte und tapfer schnarchte, sprang, sobald die jungen
Herren zur Stube heraus waren, von seinem Stubl auf und
sab der Zuruckkunft seiner Tochter, die die Herren die erste
Treppe hinunterbegleitete, durch die Tiirritze mit Sehnsucbt
entgegen. Diese verweilte sich etwas lange, denn sie bemiihte
sich, den Ring so gut als irgend m5glich an ihrem Leibe zu
verbergen, damit ihn die Eltern nicbt sahen und sie ihn ihrem
rechten Liebhaber, dem jungen, jiingst vertriebenen Kauf-
mann, den sie aus heftiger Leidenschaft unterhielt, zustecken
konnte, urn ihn dadurch ^sromoglich zu verbinden, daB er sie
zur Frau nahme.
Die Uhr hielt sie in der Hand, da sie hinaufkam. Picgiolo
aber, der ebensogut vom Ringe wuBte, fragte zuerst nach die-
sem. Davon wollte sie nichts wissen. Nun ging die Katzbalge-
rei los. Eine Weile blieb's bei gegenseitigen Schimpfen, Flu-
chen und Drohen. Dann gab's von seiten des Herrn Vaters
die erste Ohrf eige. Die Jungfer Tochter, die noch Lebensart
genug hatte, nicht sogleich wieder zu schlagen, drohte, die
Uhr noch immer in der Hand haltend, daB, wenn er sie noch
einmal anriihrte, sie die Uhr sogleich in tausend Stiicke zer-
treten wollte. Darauf erfolgte ein zweiter, harterer Kopf-
schlag und zugleich ein Griff nach der Uhr. Sie stiefi den Al-
ten aber, daB er weit von ihr taumelte, warf die Uhr auf die
Erde und trat sie mit groBer Wut in kleine Stiicken.
Nun flog unser hinkender Held mit teuf lischer Wut auf sie
zu, warf sie, ihrer ernstlichen Gegenwehr ohngeachtet, auf
die Erde, riB ihr die Haare in groBen Biischeln aus dem Kopf ,
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die Kleider vom Leibe, fand aber nicht den Ring. "Qber den
graBlichen Larm war die im Winkel liegende alte SigpvTORA
aufgewacht, taumelte auf die blutenden Streiter zu, und da
sie sie nicht mit Zerren und Kneipen auseinanderbringen
konnte, goB sie ein groB Glas kaltes Wasser liber sie aus.
Das kiihlte den alten Picciolo etwas ab, und er vermochte
nun der Alten den Betrug und das mit FiiBen getretene Gliick
der Tochter nachdriicklich vorzustellen. Die Mutter fand's
zwar auch bis zum Schimpfen und Fluchen abscheulich. Da
die Tochter denn aber doch ubel zugerichtet war, so blieb's
von ihrer Seite beim Schimpfen und Fluchen, wovon die
Halfte noch den Herrn Gemahl traf .
Die Tochter, die aufs Bette gebracht wurde, hatte bei all
ihren Schmerzen die innere Freude, daB ihr Ring unentdeckt
geblieben, daB sie ihn bald, wenn die Alten nur zu Bette gin-
gen, an ihren Liebhaber wurde geben konnen — denn ihre ge-
wohnliche Zusammenkunft war bald nach Anbruch des Ta-
ges, wenn die Alten am festesten schliefen — und daB ihre
Wunden und Beulen vielleicht so viel iiber ihn vermogen
wiirden, daB er sie gleich mit sich in sein Haus nahme. Ihre
Wiinsche w r urden erf ullt. Die Eltern gingen, nachdem sie eine
auf dem Tische stehende halbe Bouteille Champagner aus-
geleert, zu Bette. Der Liebhaber kam mit Anbruch des Tages
und nahm sie mit zu sich. Obschon er sich nicht zur Trauung
verstehn wollte und sie wohl einsah, daB sie das bald wieder
ungliicklich machen wiirde, so zog sie doch das entfernte Un-
gliick dem nahen vor, ging mit ihm und hoffte, durch ihre
List das endlich noch zu erhalten, was sie durch Aufopfrung
ihrer und ihrer Habseligkeiten nicht hatte erhalten konnen.
Gulden, der den Abend neben dem Wein viel schweres Bier
getrunken, war auf keine Weise zu erwecken gewesen. Hein-
rich hatte ihn oft wahrend des Tumults freundlich zugeredet
und bei der Hand geschiittelt, wurde aber, sobald es der Alte
99
fiihlte, mit FuBstoBen weggetrieben. Er muBte ihn also in
dem Winkel, wo er neben-.der Alten eingeschlafen war, lie-
genlassen, setzte sich weinend neben dem Alten und ging, da
ihn Piggiolo nicht die Nacht uber da wollte sitzen lassen, mit
qualender Unruhe im Herzen zu Bette.
Er wuBte gar nicht, wie ihm so ganz sonderbar zumute
war: so angstlich, so wiiste, so voll. Es war ihm, als wenn ihm
in alien Gliedern etwas lage, das ihn f orttriebe, und doch war
es ihm so schwer, so beklommen, daB er nicht das geringste
hatte unternehmen konnen. Er sehnte sich so herzinniglich
und wuBte nicht, wonach. Er fiihlte innern Abscheu und
wuBte nicht, wofiir. Tausend Bilder schwebten vor seinen
Augen. Tausendf aches Geschwirr von Tonen summte um
seine Ohren. In der Brust war es ihm so hohl, so leer, im
Kopf e voll und schwer, wie mit Blei gefiillt. Hande und FiiBe
zitterten ihm. Das Herz flog hoch. Er hatte das Licht auszu-
loschen vergessen. Es stand unter einem groBen Spiegel, der
gerade iiber sein Bette hing. Von ohngefahr erblickt er sein
Gesicht im Spiegel, sieht es totenblaB, die Augen umnebelt
und starr, die Schlafe aufgeschwollen, die Augenbraunen zu-
sammengezogen, die Nasenlocher ohngewohnlich stark geoff -
net und in starker Bewegung, die Lippen blau und zitternd,
die Oberlippe schief in die Hohe gezogen, die Unterlippe ge-
senkt, die Zahne auseinander
Lange starrt er sein Bild an und kann sich nicht entschlie-
Ben, ihm entgegenzugehn. Endlich springt er aus dem Bette,
geht die ersten Schritte schnell, dann langsamer, dann wan-
kend drauf zu und loscht das Licht aus. Aber das Bild bleibt
ihm vor Augen, er f angt starker an zu zittern, irrt lange her-
um, ohne sein Bette zu finden, findt es endlich und wirft sich
mit einem angstlichen Schrei hinein, das Gesicht in die Bet-
ten verhiillt.
Aber die Schreckbilder wahren fort. Unter ihnen erscheint
100
ihm audi seine gute Mutter weinend und betend, wie er sie
oft und beim Abschiede noch gesehn. Nun entstiirzt ihm ein
Strom von Tranen, und er weint und heult laut. Es f allt ihm
schwer aufs Herz, daB er die letzte Ermahnung seiner Mut-
ter, stets Gott vor Augen zu haben und fleiBig zu ihm zu be-
ten, ganz aus der Acht gelassen, daB er, solang er von ihr ist,
noch keinen Abend und keinen Morgen gebetet. Unter tau-
send Tranen betet er laut sein gewbhnliches, auswendig ge-
lerntes Abendgebet. Dabei denkt er sich sehr lebhaft ein Bild,
das zu Hause iiber seinem Bette zu hangen pflegte, die Mut-
ter Maria mit dem Kindlein auf'm SchoBe vorstellend. Aber
Maria sieht aus wie seine Mutter und das Kind wie Friede-
rike; es wird ihm nicht leichter; es tobt unaufhorlich in ihm
fort, und der arme Junge ware diesem schrecklichen Gemlits-
zustande, diesem plotzlichen Erwachen der Leidenschaften,
durch friihe Bekanntschaft mit dem Laster gew r eckt, sicher er-
legen, hatte ihn nicht der anbrechende Tag und das Aufklin-
ken an seiner Tiire durch die entfliehende Signora einiger-
maBen herausgerissen.
Diese hatte der Mutter alles gewonnene Geld und dem
alten schlafenden Gulden alles, was er von der Konzertein-
nahme bei sich hatte, und noch dabei sein eignes Reisegeld
aus der Tasche genommen und wollte im Vorbeigehen ver-
suchen, ob die Tiire des Gulden offen ware und ob da noch
etwas mitzunehmen sei. Heinrich hatte sich aber eingeschlos-
sen, und da gab sie sich denn weiter keine Muhe. Indessen
war dadurch bei Heinrich die Furcht vor Diebe entstanden,
und diese benahm seinem vorigen Schrecken die Gewalt. Ein-
schlafen konnt' er aber nicht, er stand auf und schrieb an
seine Mutter, welches er auch bisher unterlassen hatte.
Kaum aber war die Sonne so hoch gestiegen, daB auch in
der engen StraBe am hohen Giebel des gegeniiberstehenden
Hauses ihre Ankunft zu sehen war, so trieb's ihn nach dem
101
Garten zu seiner Friederike. Es war ihm aber heute so angst-
lich, als'wenn er nicht gehn.diirfte. >Vielleicht weint sie, viel-
leicht ist sie bos auf mich, vielleicht ist sie gar nicht einmal
da oder hat die Gartentiire zugeschlossen.< All das war ihm
sonst gar nicht zu Sinne gekommen, itzt aber peinigte es ihn
so sehr, daB es ihm wirklich sehr viel Anstrengung kostete,
hinunterzugehen.
Lange stand er erst oben an der Treppe, dann wieder un-
ten an der Treppe, dann an der Gartentiire und zitterte und
bebte fur Angst. Endlich wagt er's, tritt in den Garten und
sieht das Heine liebe Madchen da sitzen und weinen. Er ware
f iir Scham und Schmerz fast in die Knie gesunken. Kaum wird
sie ihn aber gewahr, so springt sie auf, lauft ihrem Bruder
Heinrich wie gewohnlich mit herzlicher Freude entgegen,
und indem sie ihm recht freundlich zulacht, rollen noch im-
mer die hell en Tranen die Wangen hinab. Wie sie aber seine
Totenblasse, seine Angst sieht, schwindet ihr Lacheln, und
sie weint laut.
Heinrich wagte es nicht, zu fragen, was ihr fehlte, war-
urn sie weinte; sein unruhiges Gewissen klagte ihn als die Ur-
sache davon an. Friederike vermocht' es lange nicht, ihm zu
sagen, daB ihr Vater gestern abend sehr bos auf die liederliche
Wirtschaft gewesen und geschworen habe, das lose Gesindel
den folgenden Morgen aus dem Hause zu schaffen. Nun
wuBte sie zwar nicht recht, ob er damit auch Gulden gemeint,
und fing ihre Unterredung mit der Frage an, ob Heinrich ge-
stern mit seinem Vater bei Sigintoke Picciolo oben gewesen.
Da ward's ihm gewiB, daB sie um ihn weinte, und er erzahlte
ihr im bittenden Tone die ganze Geschichte der gestrigen lie-
derlichen Wirtschaft.
Wie er dran kommt, daB die eine Mamsell ihm habe wol-
len zierlich und zartlich kiissen lehren, wird er xiber und uber
rot, wie mit Blut begossen. Es tat aber auf Friederiken eine
102
ganz andre Wirkung, als ihm sein unruhiges Gewissen pro-
phezeite: Sie ward heiterer, ward begierig nach der Kunst
und bat ihn, sie ihr auch zu lehren. Das Zierliche ward ihm
schwerer als das Zartliche.
Auch die Geschichte vom Pfanderspiel tat eine ihm uner-
wartete Wirkung auf das kleine Madchen. Es war, als wenn
ihr Heinrich wichtiger dadurch ihr wiirde, als wenn sie nur
unzufrieden war, daB sie nicht mit dabeigewesen. Bei Spielen
mit Kindern war das doch ganz anders mit ihr gewesen.
Wie er aber seine Geschichte vollendet hatte, schopfte er
aus ihrer Heiterkeit Mut und fragte, warum sie erst so ge-
weint, und kaum fangt sie ihm an den schrecklichen Vor-
satz des Vaters zu entdecken, so geht oben der Larm los.
Der Wirt war friiher aufgestanden, urn die lose Wirtschaft
noch den Morgen loszuwerden, hatte den alten Picciolo ge-
weckt und ihm ganz kalt gesagt: Da sein Haus doch einmal
nicht so recht bequem fur liederliche Wirtschaft eingerichtet
ware, so mochte er so gut sein, die hier angefertigte Rech-
nung von zweiundvierzig Talern zu bezahlen und sich ein
andres Logis zu erwahlen. SiGrsTORE Picciolo horte in die-
ser Anrede nichts als das : >liederliche Wirtschaft<^ und da er
selbst nie dagegen so recht in Eifer geraten konnte, rief er
seiner Frau und Tochter, dafi sie kamen, ihre Ehre zu ver-
f echten. Der Wirt meinte, er habe an einer genug. Und siehe
da, es kam auch nur eine, denn die Tochter war nicht zu fin-
den. Alles Suchen war vergeblich, und das vermiBte Geld
aus der Mutter Tasche bestatigte bald ihre Flucht.
Nun ging die Alte mit Sturm auf den Signobje Picciolo
los, daB er sie gestern so gemiBhandelt, und dieser wollte dem
Wirt zu Leibe, daB sein Haus so unsicher sei. Der Wirt
meinte aber, er hatte ihm seine Tochter nicht aufzuheben
gegeben, sonst hatt' er sie in einem seiner eichenen Kleider-
spinde verschlossen, wo sie keiner hatte beriechen sollen, viel
105
weniger stehlen. Mitten im abscheulichsten Wiiten und Rasen
der beiden Alten erinnerte er nur immer an seine zweiund-
vierzig Taler. Die Alte versicherte ihm mit Zetergeschrei,
die Tochter hab' ihr all ihr Gold und Silbergeld mitgenom-
men. »Wird soviet nicht gewesen sein« f erwiderte der Wirt,
»sonst luiirde man ivokl nicht seit acht Tagen die Lichte und
das JLeinol haben auf Borg holen lassen.«
Das alte bucklichte Weib schwur aber, ihre Signora habe
nur noch gestern abend vierzig Louisdor im Pharao gewon-
nen. »So, so«, sagte der Wirt, »von den jungen Herren? Die
haben sich nicht weit von meinem Hause geschlagen, sind
nach der Rathauswache gefiihrt! I nun, den guten Leutchen
wird auch die Zeit lang werden, die wollen auch Gesellschaft
haben« — Und so ging er, die gefullten und noch nicht be-
zahlten Bouteillen, die von gestern abend noch dastanden,
untern Arm nehmend, sachte die Treppe hinunter, nahm
ganz gelassen seine Pudelmiitze ab und setzte seine Knoten-
periicke auf, zog seinen bunt kalmanknen Kascheking aus
und zog seinen braunen BriiJBler kamelottenen Rock mit
durchbrochnen messingnen Knopf en an, nahm seine ledernen
Waschhandschuh unterm Arm, sein spanisches Rohr mit
elf enbeinernen Knopf, eine schwimmende Seejungf er vorstel-
lend, in die rechte Hand, seinen grofien Hut in die linke, und
indem er sich von seiner Tochter die schwarzen Tuchkama-
schen abstauben liefi, hustete er dreimal auf, als sarin' er auf
eine Anrede, und dann ging er ganz langsam zum Herrn Biir-
germeister, bat sich die Wache aus und lieB den Signore Pic-
ciolo mit seinem ganzen Anhange zu den jungen Herren in
die Rathauswache fuhren. Dem Signore Picciolo gab er an
die jungen Herren die Rechnung fur den gestrigen Wein mit.
Fur Gulden interessierte sich ein pohlnischer Fiirst, der seit
zwei Tagen in dem Gasthofe logierte und den Knaben hatte
spielen horen. Er war ein sehr groBer Freund der Musik,
104
hatte selbst eine ansehnliche Kapelle, und schon war ihm
der Gedanke eingekommen, unsern Heinrich mit nach War-
schau zu nehmen.
Guldens Wut uber das gestohlne Geld Avar unbeschreib-
lich. Das erste war, daB er den armen Jungen bei den Haaren
die Treppe hinaufschleppte — das muBte Friederike sehen —
und ihn ganz erbarmlich abpriigelte, weil er ihn nicht ge-
weckt, nicht bewacht hatte. Seine Wut verwandelte sich bei
Ankunft der Wache in Angst, mit weggeschleppt zu werden.
Sein und des Knaben Wehklagen f uhrte den pohlnischen Fiir-
sten auf den Hausflur und bewog ihn zum Mittler.
Auch konnte Gulden das Seinige zur Bef riedigung des Wirts
beitragen, denn die vom Abt erhaltene Dose und zwolf Du-
katen hatte er in seinem Kasten wohl aufgehoben. Acht Du-
katen muBte er an den Wirt bezahlen. Da er nun aber weh-
klagte, wie er mit vier Dukaten nach Warschau kommen
sollte, erbot sich der Furst, seinen Knaben mit hinzunehmen;
fur den Alten habe er keinen Platz. Gulden erbot sich aber
sogleich, auf dem Bock zu sitzen, wenn der Furst nur sein
Heinchen in den Wagen nehmen wollte. Das lieB sich der
Furst gefallen, und es ward also bestimmt, daB sie morgen
fruh abreisen wollten.
Gulden fertigte nun den treuen Rothbart ab, gab ihm fur
die bisher treulichgeleistetenDienstedenSchecken und sandte
seiner Frau die Dose und einen Dukaten. Mit dem Auftrage,
die Dose wohl aufzuheben. Erst aber zu alien Hohen und
Niedrigen in der Stadt hinzugehen, die Dose zu prasentieren
und dabei zu erzahlen, Heinrich habe sie mit hundert Du-
katen gefiillt — es gingen kaum funfzig in die Dose — vom.
Konige von Polen bekommen: Der Konig triig' ihn sehr oft
auf dem Arm und konnte sich gar nicht satt an ihm kiissen.
Von dem Dukaten sollte sie sich gute Tage pflegen und es
den Leuten sehen lassen.
105
Von Picciolo will ich nur noch dieses erwahnen, daB sich
allerlei^eueBubenstiicke entdeckten und er,nach einem lang-
wierigenProze£,mit seinem ganzen Anhange iiber dieGrenze
gebracht wurde.
Die Tochter hatte sehr bald erfahren, daB ihr Liebhaber,
vermeinter Kaufmann aus Danzig, ein religierter Student
axis Konigsberg war und die Wohnung, in die er sie gefiihrt,
ein offentliches liederliches Haus. Wie das erste so ganz ent-
deckt war und sie ihm hart drum anging, nahm er an einem
Morgen all ihre Habseligkeiten zusammen und iiberlieB sie
der Diskretion ihrer edlen Wirtin. Die ihr mit vieler GroB-
mut versicherte, sie wollte ihr so viel Gelegenheit als mog-
lich vers chaff en, ihre Sehuld fur vierzehntagiges Logis und
Zehrung recht bald abzuverdienen, und dann hatte sie ja
die Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte.
Wie sich aber Signoba Picciola nach dem Schicksal ihrer
Nebenschwestern, die sie nun nach und nach kennenlernte,
erkundigte, ergab sich's, daB die ebenso angefangen und in
f iinf bis sechs Jahren noch nicht das Ende finden konnen.
Ich halte mich von der genauen Schilderung dieses Hauses
und seiner Wirtin zuriick. Ich will aber doch die Anmerkung
nicht verschweigen, daB ich in Romanen und Komodien und
Gemalden fast immer eine falsche Schilderung von Kupple-
rinnen gefunden. Man malt die Weibstiicke gemeinhin sehr
haBlich, sehr bose, Teuf el und Holle im Gesicht. Das ist aber
gar nicht so in der Natur. Ihre wohlbeleibte Gestalt, ihr vol-
lig ruhiges Gesicht, ihre lachelnde jovialische Miene zeugt
gemeinhin von einem vollig eingeschlaf erten, getoteten Ge-
wissen, und solange ihre Einnahme gut bleibt — sonst ist's
Holle und Teuf el — , leben sie in einer ununterbrochnen See-
lenruhe, die vollkommner sich auf dem Gesichte malt als
diejenige, die durch ein gutes Gewissen erzeugt wird, weil
man bei ihr auch keineSpur von einer Schildwache iiber sich
106
selbst findet. Ich habe mir daher schon oft gedacht, daB einem
Menschen, der an den Materialismus glaubt, eine Kupplerin
in gutem Verdienste der beneidenswerteste Stand sein miiBte.
Der Abschied zwischen unserm Heinrich und seiner Frie-
derike war sehr traurig. Den Abend iiber saBen sie ganz
stumm, sich bei der Hand haltend, im Garten, hatten Kopf
und Herz so voll von Dingen, die sie sich alle noch sagen woll-
ten, und sagten sich nichts; weinten. Den andern Morgen
sahn sie sich noch einige Augenblicke im Garten und ver-
sprachen sich, einander zu schreiben. Dann ging's fort. Im
Wagen der Fiirst, seine Matresse, deren Kammerjungfer und
Heinrich; drauBen auf'm Kutschbock Gulden mit zwei Be-
diente, der Kammerdiener zu Pferde vorauf, ein Jager zu
Pf erde neb en dem Wagen. Und nun ging's, ohne daB auBer-
halb dem Wagen etwas Merkwiirdiges, unsern Heinrich be-
treffend, vorgefallen -ware, grade nach Warschau. Was im
Wagen das mogen sich die Leser selbst denken.
Ich bin kein Freund vom Ausmalen des Lasters der Wol-
lust; sowenig zur sogenannten Warnung und Heilung als zur
Ergotzung. Ich verachte alle die Schriftsteller von ganzem
Herzen, die ihre schoneFarben dazu verwenden, er sei Dichter
oder helf siichtiger Schreier. Von diesen begreif ich's oft nicht,
ob's wirklich Unwissenheit in der Geschichte, oder Blindheit
furs Vergangene und Gegenwartige, oder schwarze Galle, ge-
reizt durch fehlgeschlagene ehrgeizige Projekte, gekrankten
Hochmut und Eitelkeit, oder Prahlerei, Liebe zur Poesie, zur
Gewohnheit gewordene wichtige enthusiastische Sprache, oder
— "was ich wohl am ^venigsten vermute — eigenes Gefiihl sei-
ner Unwxirdigkeit ist, ^vas so viele Schriftsteller itzt zu so er-
barmlichen Geschrei iiber die Sittenlosigkeit unserer Zeit be-
wegt.
Wahrlich, ihr voreiligen Schriftsteller — meistenteils Prah-
ler — , ihr breitet durch eure ausposaunte Helfsucht unter den
107
bessern Menschen — oft tausendmal besser als ihr groBmau-
ligen Heifer — tausend Laster aus, die dem grofiten Teil des
Menschengeschlechts ohne euch so gewifi unbekannt bleiben,
wie ihr ihnen selbst ohne eure Prahlerei unbekannt bleibet.
Das ist's aber, was euch zum Schreiben peitscht. Ihr wollt
immer gern an alien Ecken gelesen sein, wollt wenigstens
heute f lir mehr gehalten sein, als ihr wirklich seid ; denn fur
die Zukunft raubt ihr euch dadurch auch noch das wenige
Verdienst, so ihr wirklich habt.
Bessert euch doch erst selbst aus alien eur en Kraf ten. Glaubt
mir, das Beispiel eines moralisch guten, vollkommnen Man-
nes bessert ehe tausend Bewohner einer Stadt, ehe tausend
Schriftsteller, die uber die Keuschheit schreiben und den Hu-
ren nachlaufen, einen einzigen Mitbiirger bessern.
Und was ist wohl der wahre Grund, daB ihr so genau aufs
ganze Menschengeschlecht wirken wollt, die ganze Welt bes-
sern wollt? Wahrhaftig nur, weil euch euer eignes Leben es
unmoglich macht, in dem kleinen Zirkel, in dem ihr lebt,
etwas auszurichten. Doch ich schweife zu weit aus. —
Unterwegens hatte der Fiirst einigemal mit Gulden davon
gesprochen, er wolle Heinrichen zu sich nehmen, wolle ihn
bei seinem Musikdirektor, der ein vortrefflicher Mann und
groBer Kiinstler sei, weiter in der Musik unterrichten lassen,
ihn auch zu andern galanten Wissenschaften anhalten.
Gulden hatte aber seine Rechnung schon gar zu sicher ge-
macht, wie er sein Kapitalchen bis in sein spates Alter nut-
zen wollte, und mochte sich darauf nicht einlassen. Zur Aus-
flucht nahm er, sein Heinchen miisse erst ein guter lutheri-
scher Christ werden, miisse erst eingesegnet werden; dann
wollte er ihn dem Fiirsten wieder nach Warschau hinbringen.
Vergeblich wandte der Fiirst hiewider ein, sein Musikdirek-
tor war auch ein Lutheraner und ein Mann, der viel auf Re-
ligion hielt.
108
Dieser Mann, der Musikdirektor des Fiirsten, hat gar zu
groBen Anteil an dem ganzen kunftigen Leben unsers Hein-
richs, als daB ich mich nicht bei ihm aufhalten sollte und
meine Leser mit ihm bekannt machen. Seinen Namen darf
ich nicht nennen. Er lebt noch und will nicht genannt sein.
Ich will ihn Hermenfried nennen.
Hermenfried war von eilf Kindern der alteste Sohn eines
wohlhabenden Kaufmanns in Dresden, Sein Vater, ein Mann
von sehr vieler gesunder Vernunft und edlem Herzen, ein
Mann, gesund an Leib und Seele, gab ihm eine vernunftige
natiirliche Erziehung.
Da die Mutter ihm bei der Geburt mit siiBem Lacheln den
Knaben reichte, trat er mit ihm zum offnen Fenster, blickte
zum mondhellen, sternenhellen Himmel und sprach in seinem
Herzen: >Ich danke dir, Gott, daB ich Vater eines Menschen
bin; laB ihn mir auch zum Menschen erziehen!<
Er war fest entschlossen, ihn nicht eher zu irgendeinen
Stand zu bestimmen, als bis sich in dem Knaben die hohern
Seelenkrafte entwickelten und er selbst imstande ware zu
wahlen. Bis dahin ging sein ganzes Bemuhen, ihm einen
dauerhaften, f esten Korper zu verschaffen, ihn an MaBigkeit
und Folgsamkeit zu gewohnen. Fiir des Knaben ubrige mora-
lische Erziehung war er weiter nicht besorgt, desto mehr
aber fur sein eigenes Betragen und das Betragen aller derer,
die um den Knaben waren; denn er war fest iiberzeugt, daB
moralisch gute Erziehung nur durch Beispiel gelehrt werde.
Er hatte viel iiber Erziehung nachgedacht, viel druber ge-
lesen und erstaunte oft, sehr oft, wenn er Dinge, die die
Dummheit, der Aberglaube, die Gewohnheit fast allgemein
und von jeher als unschuldige und notwendige Mittel zur
Erziehung ausgebreitet, wenn er diese als elende MiBbrau-
che, als schleichende Gifte, die die Gesundheit Leibes und der
Seel en zerstoren, kennenlernte. Und je mehr er las, je mehr
109
er nachdaehte, desto melir wurde er iiberzeugt, daB die Men-
schen wohl alle — nur in* verschiedenen Graden — gut ge-
boren wiirden und daB die gauze groBe Kunst der morali-
schen Erziehung nur darin bestehe, das Kind, das herrliche
Werk der Natur, nicht zu verderben, zu zerstoren (bessern
diirften wir's wohl nur dann, wenn wir's schon verdorben
haben) und ihm die wahre Veranlassungen zu seiner Entwik-
kelung, die ihm Natur und Zustand der Welt darbieten, nicht
zu rauben und iiber alles nicht zu verriicken.
Die ganze Erziehung ware also negativ?
Wem waren hier am Ende nicht zwei Worte im Wege? Zu-
stand der Welt. Diesen miissen wir vor den Augen des Kin-
des, des Knaben, des Junglings zu verbessern oder vielmehr zu
berichtigen, zuriickzufiihren suchen. Wir miissen, soviel an
uns ist, durch unser Beispiel, durch das Beispiel aller und al-
lem, was um ihn ist, Gelegenheit, Veranlassung, zu rechter
Zeit auch Hindernisse und Schwierigkeiten darbieten, sich
zum Gut en zu entwickeln, auszubilden, zu bestimmen.
Ich gesteh' es gern, dafi dieses uns in gegenwartiger Welt
unendlich schwerer werden mu£, als es uns itzt ankommt, den
zwolften Teil unsers Einkommens fur die Erziehung unsers
Knaben hinzugeben. Wie leicht aber wird unsern Sohnen, die
so zu guten Menschen gebildet werden, die Erziehung ihrer
Kinder werden! Erziehung wird alsdann kein besonderes Ge-
schaft mehr sein.
Jede Handlung des Vaters, der Mutter, der Hausgenossen
ist eine lebendige Lehre fur den Sohn.
Die maBige,naturlicheNahrung der Eltern sagt demKinde
am nachdriicklichsten : So muBt du leben, - macht's ihm zur
Gewohnheit, zur Notwendigkeit, so zu leben. Die Gesundheit
der Eltern, seine eigene Gesundheit zeigt ihm am nachdriick-
lichsten die gute Folge der MaBigkeit, sagt ihm am nach-
driicklichsten : Du muj3t maflig leben, um gesund zu bleiben.
110
DieBeschaftigung derEltern,die iminer einen guten,niitz-
lichen Endzweck hat, sagt ilim am nachdriicklichsten : Du
muftt dich niitzlich beschdftigen, muj3t arbeiten*
Das Geld, so der Vater dadurcli gewinnt und wofiir Nah-
rungsmittel und Kleidung und Vergniigungen verschafft wer-
den, sagt ihm am nachdriicklichsten: Wenn du arbeitest, hast
du Brot und Kleidung und Vergniigen*
Die Vergniigungen der Eltern, die immer auf Gesundheit
und Aufheiterung abzielen und also groBtenteils in Leibes-
bewegungen und frohlichem GenuB der Natur hestehn, die
reuelose Frohlichkeit, mit der sie wieder von solchem Ver-
gniigen an ihr Geschaft gehn, sagen ihm am nachdriicklich-
sten: Du mufdt solche Vergniigungen wdhlen, die dich star-
ken, aufheitern und zu neuer Arbeit fdhig machen.
Die Liebe, die Gefalligkeit, die Dienstfertigkeit, die die
Eltern gegen ihre Nebenmenschen bezeugen, und die Liebe
und Dankbarkeit, mit der andere den Eltern wieder zugetan
sind, sagen ihm am nachdriicklichsten: Du muj3t deinen Ne-
benmenschen lieben und ihnen dienen; damit sie dich wieder
lieben und dir helfen.
Die himmlische Heiterkeit im Auge der Eltern nach voll-
brachter guter Tat im verborgnen sagt ihm am nachdriick-
lichsten: Du muj3t im stillen Gutes tun, ivenn du die hochste,
reinste aller Belohnungen dafiir einernten willst.
Die Achtung, die jeder gute Mensch dem Vater und der
Mutter ihrer MaBigkeit, ihrer Arbeitsamkeit, ihrer Heiter-
keit, Menschenfreundlichkeit, reinen Tugend wegen bezeigt;
die Zufriedenheit, in der Eltern mit dem von Gott erhaltenen
und durch ihren FleiB Erworbenen leben; die Ruhe der See-
len und das zuversichtliche Vertrauen auf Gott, mit dem die
Eltern in triiben Tagen ihre Zuflucht zu ihm, dem allgiiti-
gen, liebevollen Vater, nehmen; die Heiterkeit und Beruhi-
gung, mit der sie von jedem herzlichen Gebete sich erheben;
111
die sagen dem Kinde am nachdriicklichsten : Du muj3t Gott
vertrauen und ihn von Herzen lieben, Gott, dem guten Voter,
der keines seiner Kinder verlaflt; du mufit zufrieden sein mit
dem, was er dir gibt, er gibt dir alles aus der Fiille seiner
Gnade; du muj3t deinen Nebertmenschen lieben, ihm dienen,
muf3t heiter, arbeitsam, mdj3ig, gut sein, urn mit dem Bei-
falle Gottes, mit deinem eigenen Beifall, mit dem Beifall der
Guten — gliicklich zu leben.
Ich kann mir fur alle Stande kein anderes Mittel denken,
dem Kinde zu lehren, wie dauerh after und wahrer Wohlstand
nur durch FleiB und MaBigkeit erlangt und erhalten wird
und wie man gliicklich lebt, als das Beispiel der Eltern und
derer, die um ihm sind.
Man lehrt itzt sehr weise : Die Grof3en und Reichen sollen
alles Ersinnliche tun, ihren Kindern zu verbergen, da0 sie
geborne Herren sind.
Solange GroBe und Reiche ihre groBte Ehre, ihr grofites
Verdienst darinnen setzen, groB (hochgeborn) und reich zu
sein, so lange wird's GroBmiitter, Eltern, Verwandte, Freun-
de, Bekannte, Fremde, Bediente und Hausgenossen geben,
die alle ihre eitlen, schmeichlerischen Kiinste anwenden wer-
den, es dem jungen Herrn recht fest einzupragen, daB er ein
geborner Herr sei.
Und das Vorsagen ist noch lange nicht das Argste dabei.
Der hochgeborne Junge muB noch oft einen rufen, der ihn
auf den Nachtstuhl hebt und hernach noch die engen Hosen
zuknopft. Dies all ein wiirde alien Lobreden, von denen der
hochadliche Junge doch nichts versteht als den Katzenbuckel
des Redners, sein verzerrtes Gesicht und den HandkuB zum
Eingang und SchluB der Rede, vollig das Gleichgewicht hal-
ten. DaB er aber jenem, der ihm dient, der ihm notwendig
ist, rufen kann, befehlen kann, ihm zum Dank fur die zuge-
knopften Hosen auch wohl ins Gesicht schlagen kann, wenn
112
die Hosen ihn driicken, mit einem Worte, daB der Junge in
alien Dingen wie ein Herr gehalten wird, nicht wie ein Kind,
wie ein hiilfloses Kind; daB die, die ihm helfen, nicht seine
Freunde, seine Wohltater sind, sondern seine Sklaven, das
erklart's ihm ganz deutlich : er sei Herr geboren.
Ferner : Reiche und vornehme Eltern sollen ihren Kindern
alle ^dussichten von Reichtumern und vom hohern Stande
verborgen halten.
Wie ist das moglich, solange die Eltern in der xippigsten
Verschwendung leben und die Kinder an alien, was die Eltern
haben, genieBen, Anteil nehmen? solange ihnen alles gegeben
wird, wonach sie verlangen? solange man dem Kinde die-
selbe Ehrerbietung bezeigt als den Eltern? solange Eltern
auch darinnen, daB dieses geschahe, ihr eigenes Ansehen
suchen?
Konnen sie's ihm nicht langer vorenthalten, so sollen sie
ihm begreiflich machen^ wie leicht ein ererbtes Gliick zu nichts
iverden kann.
Wenn nicht glucklicherweise furs Kind eine Feuersbrunst
des Vaters Haus und Hof verzehrt, so weiB ich nicht, wie das
Kind auch dieses fassen soil. Es sieht seine Eltern stets un-
beschaftigt, stets Hande voll Geld leer werden. Das Kind wird
aus dem ersten Umstande bald abnehmen, daB es dem Vater
alles zugef alien sei, ob von Gott, vom Teufel oder vom GroB-
vater, das ist fur ihn gleich. Dann sieht's, daB alle Tage Gold
weggeworfen wird und daB es den andern Tag doch immer
wieder ebensogut geht als den vorigen. Weiter sieht ein Kind
nicht.
Ebendiese stete Verschwendung der Eltern bei stetem Mii-
fiiggange und steter Unordnung macht's auch dem Kinde
unmoglich zu begreifen, daB nur Ordnung und Weisheit,
Sparsamkeit und FleiB einen dauerhaften und wahren Wohl-
stand hervorbringen und erhalten konne.
113
Ein Mittel ware nur noch, wie das Kind aus dem schlech-
testeirBeispiele der Eltern einen vortrefflichen Unterriclit fiir
sich ziehen konnte. Der Vater miiBte dem Kinde alle die
Sorgen, alle die miihsamen und oft niedertrachtigen Wege,
die er ohngeachtet seines Reichtums einschlagen muB, urn
immer hinlangliches Geld fiir seine Verschwendung und die
Verschwendung seines Weibes herbeizuschaffen, sehen und
anhoren lassen; er miiBte ihm sehen lassen, wieviel Ranke
und List es ihm kostet, sich ohnerachtet seiner hohen Geburt
in Ansehen und Ehren zu erhalten.
Das war ein Mittel, dem Kinde, das ohnerachtet aller Miihe,
die man sich gegeben, es zu verderben, doch noch genug na-
tiirlicher Mensch ist, um auf der griinen, blumigten Aue,
unterm blauen, hellen Himmel, in freier, heitrer Luft, an
dem leichten Spiel tausendf arbiger Schmetterlinge mehr Ver-
gniigen zu finden als bei goldnen Wanden, im dampfenden
Saal an dem steifen Puterhahnentritt hochfrisierter, gold-
geschmiickter Narren, diesem Kinde all die mit Gold und
Seelenruh' erkaufte Torheiten verachtlich zu machen.
Wo gibt's nun aber Eltern, reiche und grofie Eltern, die
verniinftig genug sind, ihrem Kinde die maBige, natiirliche
Erziehung des verniinf tigenLandmanns zu geben ? Wo torichte
Eltern, die bei der unsinnigen, albernen Erziehung, die sie
ihren Kindern geben, Selbstverleugnung genug hatten, dem
Kinde ihre Torheiten aufzudecken?
Weil kein verniinftiger Mensch so leicht hofEen darf , daB
Eltern, und am wenigsten reiche und vornehme Eltern, die
Erziehung bei sich selbst anfangen werden, so rat man jetzt
fleiBig eine ganzliche Entf ernung vom vaterlichen Hause als
das wirksamste Mittel an, den Kindern ihren Stand, ihr Ver-
mogen verborgen zu halt en.
Es ist hart, das Hartste, was ein Mensch sich denken kann,
seiner Kinder, seines erneuten, verjiingten Selbsts beraubt
114
zu werden! Nicht sehen sollen, wie das herrlichste Geschopf
Gottes wachst, zunimmt, reift, nicht all Augenblick fiihlen
sollen, wie dieser korperlich abgesonderte Teil meiner selbst
durch weit starkere Bande als alle Bande von Sehnen und
Haut mit mir verbunden, mit meinem Herzen unzertrennlich
verwandt ist; nicht allaugenblicklich fiihlen sollen, wie diese
Bande mit jedem Augenblick fester zugezogen werden; nicht
fiihlen sollen, wie diese zarte Pflanze, die ohne meine Pflege,
ohne meine Wartung, ohne meinen Schutz nicht wachsen,
nicht reifen konnte, von mir gepflegt, von mir gewartet, von
mir beschiitzt wird; nicht sehen sollen, wie diese von mir ge-
pflegte, gewartete, beschiitzte Pflanze ein herrliches Gewachs
wird, das liebliche Bliite, siiBe, nahrende Friichte tragt; diese
Frfichte nicht selbst genieBen sollen; den nicht zum Freunde
meiner Seelen haben, den mir die Natur zum Freunde be-
stimmte; dem nicht der erste Freund seines Herzens sein, dem
mich die Natur zum Freunde bestimmte; von ihm nicht hof-
f en, nicht erwarten diirf en, daB er audi einst mein Pfleger,
mein Warter, mein Beschiitzer werde! —
Es ist hart, das Hartste, so ein Mensch sich denken kann!
Aber sie verdienen es, die verachtlichen, elenden Geschop-
fe, die die Menschheit in sich getotet, die sich aus den heil-
samsten Dingen der Natur Gifte bereiten, mit denen sie sich
vorsetzlich berauschen, vorsetzlich ihr schielendes Auge um-
nebeln, daB es nicht sehe die Herrlichkeit Gottes, nicht sehe
die entziickend schone Natur, die edle Menschheit! —
Ja, sie verdienen es, die elenden, verachtlichen Geschopfe,
daB man ihnen ihre Kinder entreiBe, damit diese gliicklicher
werden, damit nicht auch die Welt den Anteil an ihnen ver-
liere, den sie an ihnen haben soil.
Hermenfrieds Vater erkannte und fiihlte ganz die Pflicht
und den Vorzug der hauslichen Erziehung und fand unaus-
sprechliches Vergniigen in der Erfullung dieser reizenden
115
Pflicht. Er war mit seinem Weibe - em naturlich gutes, im-
verdoirbenes Geschopf — vollig eins. Er hatte alles, was er bei
seinen Kindern beobachtet wissen wollte, in sehr wenigen Re-
geln genau bestimmt, und da diese von seinem Weibe und
nach deren Beispiel von den Hausgenossen genau oder doch
die meiste Zeit erf iillt wurden, so horte man ihn nie iiber Be-
schwerlichkeit der Erziehung oder Storung in seinen Geschaf -
ten klagen. Jene Regeln betrafen auch bloB korperliche Ab-
hartung und Gehorsam. Das iibrige iiberliefi er dem guten
Beispiel derer, die um die Kinder waren, und der Bildung der
Kinder untereinander.
In der wissenschaftlichen Erziehung war er auf keine
Weise voreilig. Was die Kinder bis in ihr achtes Jahr in Spie-
len, in Spaziergangen, im Garten, auf'm Felde durch Fragen
und Erzahlungen lernten, war ihm genug.
Er hatte, eh er ein Weib nahm, reiflich iiber die Pflichten
des Vaters nachgedacht und nahm daher einige Jahre vor
seiner Verheiratung einen armen Burschen zu sich, bei dem
er Fahigkeit und Liebe zu den Wissenschaften fand, und er-
zog ihn zum Erzieher seiner Kinder, die er von seiner maBi-
gen, ordentlichen Jugend und der Gesundheit seines kiinftigen
Weibes wohl erwarten durfte. Er erzog ihn vollig so, wie er
wiinschte, daB seine Kinder einst wurden. In den Wissen-
schaften hielt er ihn vorziiglich zu Sprachen, zur Naturlehre,
Geschichte, Erdbeschreibung und Mathematik, nebenher zur
Musik und zum Zeichnen an.
Seine Miihe und Kosten wurden ihm bald belohnt. Der
junge Mann nahm sich mit Liebe und Eifer der Erziehung
seiner Kinder an und machte sich dadurch verdient genug, von
seinem bisherigen Pflegevater als Sohn und Miterbe ange-
nommen zu werden.
Von diesem erhielten die Kinder bis in ihr zwolftes Jahr die
vorlaufige, fur alle Standeniitzliche, wesentliche wissenschaft-
116
liche Erziehung. Der Vater und die Mutter nahmen vorzug-
lich Anteil an dem Unterricht in der christlichen Religion.
Auch bei andern Dingen trugen sie nicht wenig zum guten
Fortgange dadurch bei, daB sie in ihren miiBigen Stunden
ernstlichen Anteil an dem Unterrichte der Kinder nahmen,
der groBtenteils im Garten oder auf dem Felde erteilt wurde.
Oder auch durch aufmunternde Anreden und Erzahlungen
von dem Vorteil und der Annehmlichkeit der Wissenschaf-
ten. Zum Beispiel will ich beschreiben, was der Vater einst
den Kindern iiber den Gesang sagte, um ihnen die Singestun-
de, an die sie nicht recht glauben wollten, wichtig zu machen.
Man wird daraus auch sehen, wie der gute Vater jede Ge-
legenheit, jede Riihrung der Kinder niitzte, um ihr sittliches
Gefuhl zu bilden.
»Kinder! wie ist euch zumute, wenn ihr in einer groBen,
andachtigen Versammlung ein schones geistliches Lied mit
hundert Kehlen singen hort ? Ich f iihle mich dabei immer von
den siiBesten Gefiihlen durchdrungen. Und wenn die Ver-
sammlung es recht andachtig, mit reiner, geddmpfter Stimme
singt, kann ich's nie ohne Tranen anhoren. Kinder, wenn ihr
mich dabei ansehen wolltet, ihr wiirdet gewahr werden, daB
ich viele Verse vor Wehmut nicht mitsingen kann. Und sing'
ich in dieser Empfindung >Jesus, meine Zuversicht<, so fiihl
ich die Wahrheit davon weit starker, weit inniger, als wenn
ich's bloB sage.
Kinder !wenn ihr an einemschonen,heiternTage aus eurer
Kammer in den Garten oder auf s Feld kommt, warum brecht
ihr da oft, ohne daB ihr's euch eben vornehmt, in laute Tone,
in Gesange der Freude aus? Und wenn ihr so eine Weile fort-
singt, fiihlt ihr da nicht, daB ihr heiterer, frohlicher werdet?
Oh, mir fullt's die Seele mit heitrer, reiner Freude, mit Ent-
ziicken, wenn ich, durchdrungen von dem Anblick der herr-
lichen Sonne, die so wohltatig die Felder und Wiesen und
117
Walder bescheint, daB sie wachsen und bliihen und Frucht
trageii, die so herrlich alles beleuchtet, daB wir sehen und ge-
nieBen konnen die schonen und groBen Werke Gottes, die
schone Erde mit all ihren Bewohnern und all ihrem tausend-
faltigen Segen, den schonen Himmel mit all seinen unzahli-
genSternen — wenn ich, von diesem herrlichen Anblick durch-
drungen, in frohlichen, dankbaren Gesang ausbreche! — Kin-
der! dann steigt meine Freude, mein Entziicken aufs hochste.
Das kann der Mensch durch keine Sprache ausdriicken, was
ich dann singend fiihle!
Kinder! habt ihr wohl schon einen traurigen, recht tief be-
triibten Menschen singen horen? Wenn ihr's itzt einmal hort,
so gebt nur Achtung, wie er in den traurigsten Tonen, mit
dumpfer, klagender Stimme anf angt, nach und nach sanfter,
ruhiger wird und mit hellerer, trostender Stimme endigt.
Kinder, lieben Kinder! ich hatte eine herzlich gute, liebe Mut-
ter, es war eine vortreffliche Frau, die oft, sehr oft auf ihren
Knien zu Gott betete, daB er ihr Kraft und Weisheit geben
wolle, ihre Kinder zu niitzlichen, glucklichen Menschen zu
erziehen, die mich innigst liebte, die ich nie ach Kinder,
Tranen, heiBe Tranen hemmen meine Worte bei jedem Ge-
danken an ihr! — Vor zehn Jahren verlor ich sie; es war eine
schreckliche, traurige Nacht! Ich konnte fur Betriibnis nicht
reden, nicht weinen. Immer sah ich sie vor mir: bald, wie sie
liebevoll mit uns im Felde, im Walde wandelte und uns auf
jede Schonheit der Natur aufmerksam machte, uns in jedem
Bliimchen, in jedem Wiirmchen die Herrlichkeit und Gute
Gottes anschaulicher machte. Und wie sie dann oft mit Ent-
ziicken ihr Auge zum Himmel erhob, daB wir die Gegenwart
Gottes in ihren Augen lasen und mit ihr frohe, hoffnungs-
volle Blicke in die selige Ewigkeit taten. Und wie wir dann
die Wahrheit ihrer Worte tief fuhlten, wenn sie so, nach
langem Schweigen mit seligem Entziicken, den Himmel im
118
Auge, ausbrach: >Kinder, lieben Kinder, nur Bewufltsein sei-
ner Unschuld macht gliicklich! wissen, daj3 man sich mit gan-
zer Seele bestrebte, Gott, den guten, liebevollen Voter, recht
zu kennen, ihn dankbarlichst zu lieben, daj3 man sich bestreb-
te, seine Pflicht zu kennen, zu lieben, auszuiiben, das allein
macht gliicklich! —<
So sah ich sie immer vor mir. Ich konnte in meinem Hause,
wo sie starb, nicht ausdauern: Bei Anbruch des Tages ging
ich aufs Feld, wo ich sonst an ihrer Seite wandelte. — Es war
der letzte Tag im Jahr. — Ich sah alle Wiesen, alle Felder mit
Schnee bedeckt, alle Baume erstorben und fiihlte tiefer mei-
nen Verlust. Ich konnte nicht reden, nicht weinen. Ohne daB
ich drauf merkte, nahm ich meinen Weg nach dem nachsten
Dorf zu einem alten Schafer, den wir sonst oft zusammen
besuchten.
Ich war schon im Hause, da ich erst auf meinen Weg zu
merken anfing, wollte umkehren, die Alten liefien mich aber
nicht. Auch die Knaben aus dem Hause und von den Nach-
baren umringten mich und verlangten, ich sollte mich mit
einem Liede, so ihnen der Schulmeister zum morgenden Neu-
jahrstage gelehrt, zum Neuen Jahr ansingen lassen. Sowenig
Anteil ich auch an ihrer Freude nehmen konnte, so vermocht'
ich doch nicht, sie darinnen zu storen. Ich setzte mich still -
schweigend hin, und sie ordneten sich um mich herum.
Wahrenddessen blickte ich in ein geschriebenes Liederbuch,
wo das Lied, was sie eben anstimmen wollten, auf geschlagen
war. Ich las es, ohne zu wissen, was ich las. Ich las es noch
einmal, verstand wohl die Worte, fiihlte aber nichts dabei,
die letzte Strophe erinnere ich mich noch. Sie hieB :
Drum sei, o Mensch, mit deinem Gott zufrieden,
Wenn er gleich Trauertage schickt ;
Er hat dir schon die Stund beschieden,
Da dir die Freudensonne blickt.
119
Die Knaben sangen iiber alle Erwartung rein und ange-
nehm.'Ich fiihlte mich ^yirklich geriihrt. Was mich erst so
schwer driickte, so angstlich preBte, fing sich an in mir zu
bewegen. Ich fiihlte Wehmut, hiefi sie noch einmal singen
und fiihlte Tranen mein Auge fiillen, dann sanft die Backen
hinabrollen; und da das Lied zum andernmal zu Ende war,
fing ich selbst die letzte Strophe noch einmal an, und alle
stimmten, frohlich iiber meinen Anteil, nait hellerer Stimme
mit an. Nie werd' ich den Augenblick vergessen!
Nun konnt' ich den guten alten Leuten, die mich erst ver-
geblich iiber meine Traurigkeit befragt, mein Ungliick er-
zahlen und in ihren Tranen Erleichterung finden. Nun konnt'
ich beim Rtickwege in meinem Herzen mir zuruf en : >Ich wer-
de diese erstorbenen Felder und Wiesen wieder bliihen sehn :
Ich werde sie wiedersehn, die Teure, die innigst Geliebte. —
Seht, Kinder, solche Gewalt hat der Gesang iiber das mensch-
liche Herz.« —
Hermenfried hatte von seinem siebenten Jahre an auBer-
ordentliche Neigung zur Musik gezeigt und spielte in seinem
neunten Jahre, mit sehr geringer Anweisung, meistens aus
eigenem Betrieb und FleiB recht artig auf dem Klavier. Den
Eltern machte das viel Vergniigen. Beim Knaben nahm die
Neigung immer mehr zu ; er fing an, Spiele und Spaziergange
iibers Klavierspielen zu versaumen.
Der Vater befiirchtete, es stecke Eitelkeit dahinter; denn
die Mutter lieB ihn, wenn Besuch kam, oft spielen, und da
fehlt' es dann nicht an Lob. Nun aber haBte der Vater keinen
Fehler in der Erziehung mehr als die leidige Eitelkeit, die uns
so alles fiir andere, fur den Schein tun laBt, nichts fiir uns
selbst, fiir die Sache selbst ; und bat daher den Lehrer, seinem
Pflegesohn, dem Knaben, solche schwere Stiicke zu geben, mit
denen er nicht so ganz fertig wiirde, um sich damit zu pro-
duzieren, die auch nicht soviel Reiz fiir die Weiber hatten.
120
Das geschah; er gab ihm keine andere Stiicke als die schwer-
ste von Sebastian Bach und Handel.
Dies Hindernis aber, so den Knaben abschrecken sollte, war
ihm Veranlassung zur Entwickelung. Nun fiel er ganz drauf,
lieB nicht Nacht, nicht Tag ab, bis er des schwersten Stiicks
Meister war.
Der Vater verabredete mit der Mutter, ihn nie spielen zu
lassen, wenn Fremde da waren. Der Knabe fuhr aber, ohne
darauf zu merken, mit unermiidetem Eif er fort. Alles iibrige,
wozu er angehalten wurde, machte er schnell iiber die Hand
weg, urn nur wieder zum Klavier zu kommen. Er fing auch
an, fur sich zu komponieren, ohne irgendeinem das geringste
davon zu sagen oder zu zeigen. Eine Sonate, wie er sie iiber -
schrieben — es war mehr freie Phantasie — , die der Lehrer
einmal unter dem Kopfkiissen des Knaben liegen fand, ver-
riet ihn. Sie hatte alle Eehler der Harmonie und des Rhyth-
mus, auch der musikalischen Orthographie, aber im Gesange
waren keine geborgten Gedanken oder nachgeahmte Schon-
heiten: Es war wirklich eigene Fpntasie, eignes Gefiihl drin-
nen.
Dariiber sprach der Lehrer ernstlich mit dem Vater. Nach
einiger Uberlegung sagte dieser: »Ich bin's sehr zufrieden,
daB er Tonkiinstler werde, wenn Sie glauben, daB er kein
gewohnlicher Handlanger in der Kunst bleiben, sondern ein
wahrer Kiinstler werden wird. Wir haben aber vielleicht dar-
innen gefehlt, daB wir ihm zu zeitig mit dem Klaviere be-
schaftigt, zuerst im Klavier einigen Unterricht gegeben, eh 7
er noch fur andre Wissenschaften konnte Liebe gewonnen
haben. Lassen Sie uns eine Probe machen. Ich will ihm mei-
nen Unwillen iiber seine Vernachlassigung andrer Wissen-
schaften zeigen und ihm das Klavierspielen ganz untersagen,
ihm sein Klavier fortnehmen. Dann wollen wir ihn mit alien
Kiinsten der Anlockung zum Zeichnen hinziehen. Zeigt sich's,
121
daB ihm dieses den Verlust nicht ersetzt, daB er auszeichnen-
des Genie fur Musik hat, wohl, so mag er Musiker werden.
Damit aber auf den Fall, daB dieses das Ende ist, nichts ver-
saumt werde, wollen wir ihn wahrend der Zeit unter den ub-
rigen Wissenschaften vorziiglich zur Mathematik anhalten.«
Der Knabe war nur zwolf Jahr alt und spielte die schwer-
sten Klaviersachen von Sebastian Bach und von Handel:
wollte auch nichts anders mehr spielen. Seine eignen, inge-
heim komponierte Sachen spielte er auch nur in seinem ver-'
schloBnen Zinamer, kein Zureden konnt' ihn bewegen, sie
einem andern vorzuspielen. Eben saB er am Elavier, da der
Vater zu ihm ins Zimmer trat. Der Lehrer war mit den an-
dern Kindern spazierengegangen.
Vater: Du hier, lieber Franz? Warum bist du nicht mit den
andern auf'm Felde?
Franz: Lieber Vater, das Klavierspielen macht mir mehr
Vergniigen; ich habe da eben eine neue Bachische Fuge be-
kommen.
Vater (nach einer kleinen Pause, wahrenddessen der Junge
ungeduldig vom Vater zum Klavier und wieder zum Vater
geht, als wollt' er gern allein sein) : Hor nur, lieber Junge, ich
muB dir etwas sagen, was dich kranken wird. Es tut mirwahr-
lich leid, aber ich muB es dir sagen. Du versaumst iiber das
Klavierspielen alien andern Unterricht, selbst deine Gesund-
heit. Deine Ausarbeitungen im Schreiben, Rechnen, in der
Mathematik sind hochst fliichtig und unvollkommen, und
wann die andern ordentliche Spaziergange machen, sitzest
du beim Klavier oder beim Notenpult, und dann lauf st du wie-
der, una das einzuholen, allein und spornstreichs nach dem
Plauenschen Grunde. Du treibst das, was dir zum Vergniigen
vergonnt wurde, zum Nachteil des Niitzlichern, von dem du
einmal wirst leben miissen. Oder glaubst du wohl, von dem
Klavier kxinftig dein Brot zu haben?
122
Franz: Wieso, lieber Vater?
Voter; Ja, mein Lieber, die Zeit kommt heran, da du dich
zu irgendeinem Gewerbe bestimmen muBt, urn deinen Be-
schaftigungen eine gewisse bestimmte Richtung zu geben.
Franz; Die Musik kaim mir doch niemals schaden.
Vater; Nein, das nicht, wenn du sie maBig treibst, ihr nicht
mehr Zeit widmest, als dir ernsthaftere Studien ubriglassen.
Oder du miiBtest dich ihr ganz widmen, miiBtest Musiker
werden wollen.
Franz; Lieber Vater — wirklich — nein, daran hab 7 ich noch
nicht gedacht.
Vater \ Nun dann, mein Lieber, dann muBt du itzt das
Klavierspielen ganz lassen. Du kenn'st deinen Fehler, daB du
dich in nichts so leicht maBigen kannst, aber wohl, wenn du's
dir ernstlich vorsetzest, es ganz unterlassen kannst. Du weiBt,
wie oft du selbst bei Spielen und bei Speisen und Getranken
diese Bemerkung bestatiget hast; also laB das Klavier nun
ganz.
Franz (den Vater heftig bei der Hand ergreif end und das
Klavier mit Sehnsucht anblickend): Lieber Vater! (Die Tra-
nen steigen ihm in die Augen.)
Vater; Glaub mir, lieber Junge, es ist mir so schwer gewor-
den, dir das zu sagen, aber ich muBte.
Franz (starr das Klavier anblickend und die Hand des
Vaters kalt haltend, als wollt' er sie gehn lassen).
Voter; Komm in den Garten, Lieber! Deine Mutter weinte
erst driiber, daB sie dich so wenig zu sehen bekommt, daB du
mehr am Klavier als an uns hangst.
Franz (ergreif t wieder die ganze Hand des Vaters, driickt
sie mit beiden Handen und geht willig mit).
Nun wurd' ihm das Klavier ganz genommen. Alle Ver-
suche, ihm das Zeichnen ebenso angenehm zu machen, miB-
langen: Er trieb's wie alles ubrige, weil die Eltern Freude
125
dran hatten. Auf einmal ergriff er aber die Mathematik mit
Eifer. Er hatte einst von^einem Mathematiker gehort, der,
ohne die Musik erlernt zu haben, musikalische Stiicke kompo-
nierte. Das fiel ihm einmal in der Nacht em: Er sprang auf,
nahm das mathematische Lehrbuch vor sich, als wollt' er die
Nacht noch die ganze Wissenschaft verschlingen, und seit der
Zeit trieb er's mit groBem Eifer.
Einen Morgen kommt er zum Vater und bittet ihn instan-
digst, er mocht' ihm doch oben eine kleine Dachstube, die voll
altem Hausgerat lag, fur ihn allein geben, um so ganz un-
gestort studieren zu konnen; er wollt' all die Sachen, die da
lagen, auf eine Seite raumen und sich mit der andern Seite
behelfen. Der Vater gab ihm das zu, ohn' einen Augenblick
die Absicht des Knaben zu ahnden.
Es lag aber in dieser Kammer ein alter Klavierkasten, dem
der Resonanzboden, viele Tasten und alle Saiten fehlten. Die-
sen fing der Knabe an, des Nachts, wenn alles schlief , instand
zu setzen, und brachte es in einigen Monaten dahin, daB er,
so schlecht es auch klang, drauf spielen konnte. Das war eine
Freude!
Seine blasse Gesichtsf arbe verriet bald sein nachtliches Auf -
sitzen, und der Vater beschloB, ihn einmal in der Nacht zu
uberraschen. Das geschah, und er fand ihn am Klavier sitzen,
das am Tage unter dem Bette zu stehn pflegte. Ein ganz un-
erwarteter Anblick fiir den Vater. Er stand in sehr gemischter
Empfindung da, verbarg seinen auflodernden Unwillen liber
den, der ihm heimlich mit einem Klavier versehen, und f ragte
den stumm und starr dasitzenden Knaben, von wem er das
Klavier habe. Der Knabe erzahlt treu die Geschichte. Und
nun der Vater das mit unbeschreiblicher Miihe und vieler
Klugheit zusammengeflickte Instrument siehet, kann er seine
Freude nicht bergen ; er f allt dem Knaben um den Hals und
sagt : »Du hast geivdhlt? — es sei!«
124
Nun wurde Musik ernstliches Studium des Knaben: Er be-
kam griindlichen Unterricht im GeneralbaB und Singen, ging
dabei taglich zwei Stunden zu einem groBen Meister — auch
diesen darf ich nicht nennen — , der ihn mit den Werken der
besten alten und neuern Komponisten bekannt machte, ihn
auf den Charakter des Werks, auf die Anordnung im Gan-
zen und auf die besondern Schonheiten aufmerksam machte.
Gelegentlich auch bei den Beispielen die Regeln, ihre Ent-
stehung und Einschrankung beriihrte, dabei seine Lektiire
iiber die Geschichte der Musik leitete und dann zuletzt die
beste theoretische Anleitung zur Musik mit ihm durchging.
Dann lieB er ihn eigene Ausarbeitungen machen, bei de-
nen er sich an keine gewisse Form binden mufite, sondern sei-
ner eignen Fantasie und Empfindung folgen. Diese korre-
gierte er ihm nicht so gewohnlicherweise mit Ausstreichen
und Hineinschreiben, sondern sie sprachen dariiber, und das
hatte dann EinfluB auf kiinftige Arbeiten. Er schrieb viel
und mit groBer Leichtigkeit, lieB aber sehr wenig an andre
sehen und horen.
Dabei vernachlassigte er die iibrigen Wissenschaften nicht,
die er itzt aus eignem Antriebe mit mehrerm Anteil betrieb.
In die Stelle der lateinischen Sprache, in der er seinen Virgil
ganz gut las, trat nun die italienische Sprache. Diese wurde
ihm desto notwendiger, da er sich sehr zur Singekomposition
hinneigte. Auch lag ihm die Poesie sehr am Herzen. Dichter
waren seine liebste Lektiire. Und oft begeisterte ihn die Muse
selbst. Wer war wohl seine Muse?
Der Vater hatte ein wochentliches, sehr wohl besetztes
Konzert veranstaltet, worinnen die besten musikalischen
Stiicke zur Bildung des Sohnes aufgefiihrt wurden; dieser
nahm selbst viel Anteil dran und dirigierte bald manches
Stuck selbst. Es wurden Stiicke von sehr verschiedenen Zei-
ten, verschiedenen Geschmacks und Werts nebeneinander
125
aufgefiihrt. Dieses Konzert wurde abwechselnd in des Vaters
Hause tind in dem Hause jeines alten Freundes gehalten. Der
hatte eine Tochter, die aueh auBerordentliches Genie zur Mu-
sik hatte, sehr gut das Klavier spielte und nach Unterricht im
Singen von unserm Hermenfried gar sehr verlangte.
Gerne verriet ich's Ihnen, meine Schonen, wie ein Jung-
ling, edel, empfindsam und gut, seinem reizenden, zartlichen
Madchen Gesang lehrte und mit dem Gesang die Liebe. Oder
soil ich aufrichtig sein? Wie das Madchen ihm Liebe und
Lieder singen lehrte und sich's dann, als Madchen, unter tau-
send zartlichen Bestrafungen wieder lehren lieB. Treu sollte
meine Erzahlung sein, denn ich habe das zartliche Paar so
sehr belauscht, daB mir kein Ton, kein KuB verlorenging.
Auch sollten mir Ihre Verehrer danken, wenn ich's ihnen
verriet, wie sie selbst die vollkommensten Singemeister wer-
den konnten, und sollten mir's nicht miBgonnen, wenn ich
mit tausend Kxissen dafiir belohnet wurde.
Ich darf mich aber nicht auf die besondere Geschichte die-
ses lieben, edeln Paars so ganz einlassen. Sie wissen nicht, was
mir ein tadlender, unzufriedner Blick von diesen lieben, herr-
lichen Menschen ist!
Auch mocht' ich dadurch meine Reisenden auf einem so
kurzen Wege von Danzig nach Warschau gar zu lange unter-
wegs lass en.
Es soil einst das angenehmste Geschaft meines Lebens sein,
Ihnen das hochst interessante Kiinstler- und Menschenleben
meines teuern,innigst geliebten Herrnenfrieds ganz zu erzah-
len; und es geschieht, sobald er und sein trautes Weib drin
willigt.
Doch ich will Ihnen hier wenigstens die Geschichte der er-
sten Singestunde erzahlen. Dawider kann er unmoglich etwas
haben; denn wir erkennen uns sicher ebensogut darinnen als
ihn.
126
Henriette war Meisterin im Klavier, und soviel zur besten
Erziehung gehort, hatte sie auch singen gelernt, das heiBt,
sie sang richtig und rein. Sie sollte oder vielmehr sie wollte
auch gerne schon singen lernen: wollte das gern von Hermen-
fried lernen. Den hatte sie lieb, und er hatte sie lieb. Das
schlaue Madchen wuJBte beides: Hermenfried glaubte weder
eines noch das andre.
Dieser unerf ahrne Liebhaber nun, der bisher nur das Gliick
gehabt hatte, dem Heben Madchen bei Konzerten das Blatt
umzuwenden — womit er immer so lange zogerte, bis sie selbst
nach dem Blatt griff, um.ihre schone Hand zu beriihren, die
denn am Ende zum tausendfachen Dank fur ihren Dank sei-
ner Bemuhung wegen herzlich gekuBt wurde — Hermenfried
erhielt den erwunschten Auftrag, die reizende Henriette im
Singen zu unterrichten.
Er erschien den nachsten Morgen — es war der erste schone
Maimorgen — und fand das Madchen im weiBen Morgen-
kleide, eine vom Taue noch traufelnde Rosenknospe am ver-
schleierten Busen, die im Begriff war, ihr in den SchoB zu
fallen — So fand er sie am Klavier, wie sie eine Handelische
Sonate spielte. Sie sah ihn nicht kommen.
Nun war bei ihm ein Handelisches Stuck zu alien Stunden
schon hinlanglich, ihn aus der geziemenden Falte zu bringen,
die die gute Lebensart so kliiglich eingefiihrt hat, um unsere
wahre Lage zu verhehlen, denn ich habe ihn bei Handelischen
Sachen so hingerissen gesehn, daB er alles um sich herum ver-
gaB, fur Wollust schrie und mit den FiiBen stampfte.
Zu seinem Ungliick spielte sie noch dazu das allerliebste
naive Allegretto in f mit Variationen. — Das Madchen ver-
stand den Putz! —
Hatte er sich nun ganz seiner Empfindung — die schon vor
dem Eintritt ins Zimmer genugsam vorbereitet war, aufs
hochste zu steigen — iiberlassen sollen, so hatte er auf das
127
Madchen zulauf en und sein gliihendes Gesicht, seine wollust-
volle Tranen in ihrem SchoBe verbergen miissen. Dann war 7
ihm die betaute Rose in den Nacken gefallen. Nun aber fiel
sie in dem Augenblick, da er gewahr wurde, dafi die Mutter
im Zimmer war, die ihn wiirklich noch nicht gesehen, dem
Madchen auf die schone Hand. Denn das Madchen hatte sich
bei dem empfindungsvollen Gesang im zweiten Teil des Alle-
grettos sanft iibergebogen.
Durch den Fall der Rose unterbrochen, machte sie eine
laute Bewegung. Die Mutter sah auf, und das gliihende Ge-
sicht des Jiinglings iiberzog Totenblasse. Er stotterte der Mut-
ter ein Kompliment, vergaB — voll Begierde, die schone Hand
der Tochter zu kiissen — , die Hand der Mutter mit demKinne zu
beriihren, und dariiber durft 7 er's hernach nicht wagen, seine
zitternden Lippen in die weiche Hand des Madchens zu driicken.
Das Madchen sah seine Bestiirzung, sah, wie er seine To-
tenblasse fiihlte, sich schon zum andernmal das Gesicht rieb,
und sagte ihm mit sanftem Lacheln: »Sie sind ja heute ein
wahres Bild des Friihlings.« Er wurde wie mit Blut begossen,
denn er merkt' es nicht gleich, daB das lose Madchen auf sei-
nen griinen Rock, mit Rosenrot aufgeschlagen, deutete.
Man bat ihn, sich zu setzen. Er eilte, den Stuhl des Mad-
chens zu ergreifen, und dachte vielleicht weniger dabei, als
Sie jetzt schon gedacht haben, meine Schonen. Er glaubte aber
die ganze Kraft der Elektrizitat zu f iihlen. Das Madchen war
itzt zum Spiegel gegangen, der ihm gegenuberhing, um die
Rose wieder im Busen halb zu verstecken.
Mutter: Und Sie wollen die Muhe liber sich nehmen, mein
lieber Musje ***, meine Tochter Henriette im Singen zu un-
terrichten?
Hermenfried; Oh! — — (Weil er nicht sagen durfte ? das
wird das Gliick meines Lebens machen, so konnt' er gar nichts
sagen.)
128
Mutter: Freilich, ich sell' es sehr wohl ein, wie beschwer-
lich es fur Ihre feinen Ohren sein mufi.
Hermenfried: O Madam!
Mutter; Siehst du, Henriette , ich hab's dir wohl gesagt, daB
Musje *** Schwierigkeit machen wiirde.
Henriette: Ei,liebe Mutter, ich glaube, der Herr *** macht
es nur wie die Herren Arzte, die oft, urn groBers Verdienst urn
den Patienten zu haben, die Krankheit im Anfange viel ge-
f ahrlicher machen, als sie ist, und
Hermenfried: Verzeihen Sie, Mademoiselle —
Henriette: So? Zweifeln Sie denn daran, daB ich eine reine
Stimme habe? Ich will Ihnen gleich die Skala vorsingen.
Drauf ging sie ans Klavier und sang c, d, e, f , g, a, h, c.
Die Mutter gab ihm, indem sie den Kaffee bestellen ging,
einen vertrauten Wink, als wenn sie sagen wollte: >Ihre Mun-
terkeit wird Ihnen die Miihe erleichtern.<
Er argerte sich iiber den MiBverstand und sah's nicht ein
wie das schlaue Madchen, daB ihm die Szene viel Nutzen bei
der Mutter schaff en wiirde.
Nun wurde iiber die boshafte Art, den MiBverstand zu un-
terstiitzen, iiber die gottliche Stimme und wie ein Himmel
voll Seligkeiten in dem Gedanken lage, das schonste Madchen
taglich zu sehen, zu horen gesprochen? — nein, gedacht
und empfunden. Denn er konnte iiber all das, was er gern sa-
gen wollte, keine Silbe hervorbringen !
Das schlaue Madchen wiederholte indessen immer: c, d, e,
f , g, a, h, c, hielt bei jeder Oktave etwas inne und sah ihn an.
Und just dann hatte er immer schon die Worte auf der Zunge,
hatte sie ihn nur nicht angesehn! Endlich fiel er ihr bei e ins
Wort und stammelte: »Ich bin — der — Gliicklichste «
Mutter (ihn beim Armel zupf end) : Nehmen Sie doch eine
Tasse Kaffee.
Hermenfried (auf f ahrend) : Ich trinke nie Kaffee.
129
Mutter: Ei, ich habe geglaubt, Sie tranken ihn fiinf- bis
sechsmal des Tages, wennVdrauf ankame?
Hermenfried: Bei soldier Hitze, wollt' ich nur sagen, trink
ich ihn nie.
Mutter; Ei, ei! Haben Sie jetzt schon soviel Hitze, wie
wird's dann im August werden.
(Sei ruhig, gute Mutter, dann wird er sich schon zu kiih-
len wissen. Dann kann deine Tochter, die jetzt blaB dasteht
und zittert, schon singen : >Wle kann ich dich zu zdrtlich lie-
ben, du tester J tingling !<)
Nun notigte die Mutter die Tochter, etwas auf dem Klavier
zu spielen. Sie wollt' ihm eine kleine Schmeichelei machen
und nahm ein Stuck von seiner eignen Arbeit. Nun aber wa-
ren unter den vielen Stuck en, die er* selbst gemacht hatte, doch
nur sehr wenige, die ihm selbst intressierten, und er hatte
also Zeit, sich wahrend des Stiicks von all den beunruhigen-
den Dingen, die so auf ihn losgestiirmt und seine natiirliche
Dreistigkeit fast erliegen gemacht hatten, zu erholen.
Das Stuck war vorbei. Ein Bravo mit dem andern erwidert
und beide von der Mutter belachelt. Denn fur eine alte Mut-
ter gibt es keinen erfreulichern Anblick, als wenn ihre rei-
zende Tochter gefallt; sie lebt in dem Augenblick ganz in die
Seele ihrer Tochter, sie macht die Eroberung selbst. Daher
lieben die Mutter auch ihr Ebenbild so sehr an ihren Toch-
tern und lassen dem Vater lieber seine Sicherheit in den Ge-
sichtern der Sohne finden. Daher kann eine Mutter sich so
entriisten, wenn eine ihr ahnliche Tochter einen Mann liebt,
der der Mutter nicht gefallt. Eine Tochter, die keine Ahnlich-
keit mit der Mutter hat, wird viel leichter diese Einwilligung
zu einer solchen Lieb' erhalten.
Nun zog Hermenfried einen kleinen Aufsatz hervor, wor-
auf die bekannte Solmisation der Italiener, eine bessere, be-
quemere Benennung der Tone von einem neuern Singemeister
130
und seine eigne Grille zum Behuf der deutschen Sprache ge-
schrieben stand.
Er sagte ihr, wie die verschiedenen Unbequemlichkeiten
der italienischen Solmisation des Guido von Arezzo — und von
den Franzosen schon verbesserten — diese bessere neue Benen-
nung der Tone hervorgebracht. Wie er aber glaubte, daJ3 man
fur die deutsche Sprache, die jedem Sanger weit schwerer
beim Singen wird als die italienische und lateinische und die
man so selten gut und verstandlich von Sangern aussprechen
hort, noch auBer dem Solfeggieren — so zur Festigkeit und
Sicherheit der Kehle, zur Reinigkeit und Gleichheit der
Stimme und selbst zur Starke und Dauer der Brust und
Stimme vorgenommen wird — ganz besondere Ubungen vor-
nehmen miiBte, urn den Sanger an die haufig aufeinanderf ol-
genden Konsonanten und der haufigen Diphthongen in der
deutschen Sprache zu gewohnen.
Es ist nicht genug, daB die Worte mit gehauften Konso-
nanten deutlich und verstandlich ausgesprochen werden —
welches im Singen schon schwer ist und nicht gar oft gehort
wird — , sie mussen auch so ausgesprochen werden, daB der
Gesang so wenig als moglich unterbrochen wird.
Etwas geschiehet dieses auch bei der besten und kiinstlich-
sten Aussprache, und dieses ist es hauptsachlich, was unsre
Sprache zum Singen unbequemer macht als die italienische.
Er schlug daher vor, die Tone zuweilen in den einsamen
Ubungen mit den schwersten und hartesten deutschen Worten
zu benennen, zum Beispiel Scherz, Zwang, Schuld, Angst,
Schwulst, Schreck u. a. m. und sich nun erst bei ganzen langen
Noten zu bemiihen, die vor dem Vokal stehenden harten Kon-
sonanten so schnell und leicht als moglich auszusprechen, da-
mit das vorhergehende notwendige Zischen, ehe die erste Silbe
gehort wird, so kurz und so wenig als moglich gehort werde.
Ebenso riet er, die nachfolgenden Konsonanten halb zu
131
verschlucken, wo es die Deutlichkeit der Aussprache nur ir-
gend erlaubt, wenigstens sie auf den Lippen absterben zu las-
sen. Es sei denn, daB das drauf f olgende Wort sich mit einem
Vokal anfange, welches die mehresten unserer musikalischen
Dichter aber eh zu vermeiden als zu suehen scheinen.
Ebenso riet er besondere "CTbungen fiir die haufigen Diph-
thongen unsrer Sprache. Die Trennung der Vokale, die man-
che billigen, wollt' er indessen der Deutlichkeit der Aus-
sprache wegen nicht anraten.
Hiebei riigte er auch den Fehler, daB in den mehresten
Provinzen Deutschlands das st wie scht ausgesprochen wurde;
statt stark: schtark, welches im Singen ein doppelter Fehler
ist, da das scht ein langeres und starkeres Zischen verursacht
als das st.
Der Fehler hingegen in den mehresten Provinzen Deutsch-
lands, das u wie i und das o wie e auszusprechen, wird im Sin-
gen zum Vorteil, da bei u und o der Mund geschlossen wird
und dieses wider die erste Regel des Gesanges ist, mit offenem
Munde zu singen-^ denn ohne die vollige Offnung des Mundes
kann der Ton nicht rein und klar hervorgebracht werden.
Und was noch wichtiger ist, meine Schonen ! ohne die Offnung
des Mundes sieht man nicht Ihre glanzenden, elfenbeinernen
Zahne, und den schonen roten Gaum, und die schone Zunge.
Sagte das auch der liebebebende Jiingling seinem holden
Madchen ? Mit dem Munde wenigstens nicht.
H enriett eversuchte jeneBenennung mit den schwer auszu-
sprechenden Worten, und es fiel ihr, der Ungewohnheit we-
gen, sehr ins Lachen.
»Wir wollen's uns leichter machen«, sagte Hermenfried,
»ich will Ihnen einen Vers, der viele solche harte Worte hat,
in Musik setzen; dann wollen wir den zur tlbung singen. « Er
ergriff die Feder und schrieb :
132
Zwischen Furcht und zwischen Hoff en
Schwankt mein liebebebend Herz.
Jeder Freude war es off en,
Jetzo jedem Schmerz.
Und doch lieb ich meine Schmerzen
Mehr als jener Freuden Spiel:
Alles bist du meinem Herzen,
Seliges Gefiihl!
Er schrieb zugleich eine Melodie dazu nieder und sang sie
vor. Aber wie? bebend, atemlos. Auch dem Madchen bebte das
Herz. Hatt' er's nur gewagt, sie beim Singen anzusehen!
Wie's zu Ende war, sah er sie mit halben Blick an, und es
uberfiel ihm, als wenn sie lachelte und weinte.
Sie tadelte an dem Liede, daB er's aus f -Moll gesetzt hatte,
da er doch wiiBte, daB sie den Ton gar nicht horen konnte,
ohne bis zu Tranen geriihrt zu werden. Sie wiird' es des Tons
wegen nicht zur Ubung singen konnen. Das tat ihra sehr leid :
er wollt's wieder einstecken. Sie bat ihn aber, es ihr zu lassen,
nahm's und legt' es in ihre Brieftasche. Das war ihm nun sehr
lieb. Er versprach ihr, den nachsten Morgen ein ander Lied
zu bringen. »Oh, das setzen Sie doch in Es-Dur!« Das war
ihr beider Lieblingston.
Er ergriff den Hut. Und wie ihm nun, auf das Madchen zu-
gehend, das Herz immer machtiger schlagt, sich nach einem
Liebeszeichen, nach einem sanften Druck der Hand sehnt! In
ihren Augen fand er Hoffnung. Mit Zittern ergreift er die
schone Hand: Sie bebt und sagt ja.
Doch ich muB abbrechen. Wie schwer es mir wird, die in-
nige Liebe der Edlen kaum beruhrt zu haben: nicht ausmalen
zu diirf en, wie sie mit jedem Morgen wachst, immer tiefer ins
Herz sich grabt; wie sie die paradiesisch schone Natur um sie
herum zum Himmel ihnen macht ; wie sie sich unzertrennlich
133
fiihlen und sich trennen miissen; wie ihnen da das hochste
Geschenk des Himmek zu unaussprechlicher Marter wird;
wie das liebe, treue Madchen nun die langen Nachte durch-
weint; er von ihr entfernt, lange alles, was sie nicht ist, was
sie nicht wenigstens einen Augenblick sein kann, anekelt, an-
speit, an alles, was nur einigermaBen sich ihr naht, mit Sehn-
sucht, mit brennender Begierde sich hangt und sich so in der
groBten Reinigkeit seines Herzens Leiden, unaussprechliche
Leiden bereitet, die all seine Tugend, all seine Starke zu
machtigen Kampfen auffordern, denen er fast erliegt, durch
Beharrlichkeit, Gewalt uber sich selbst endlich den Sieg er-
halt und mit unbescholtenen Armen sein treues, liebes Mad-
chen wieder umf aBt und ihre Tranen mit Liebe trocknet.
Kann und darf ich auch gleich das alles nicht so malen, wie
es im Innersten meiner Seele flammt, so versprech ich doch
meinen Lesern, ihnen recht bald Lieder zu geben, die Her-
menfried in dieser gliicklichen und ungliicklichen Liebeszeit
gedichtet, die den Zustand seines Herzens treu schildern.
Hermenfried hatte in seinem zwanzigsten Jahre griind-
liche Kenntnis der Harmonie und Fertigkeit im Komponie-
ren. Das Klavier spielte er mit auBerordentlicher Fertigkeit
und Delikatesse. Er iibersah den Umf ang der Kunst mit schar-
fem Blick und hatte einen guten, bestimmten Geschmack.
Aber Erfahrung fehlte ihm noch in ziemlichen Grade. Ich
meine, Erfahrung als Komponist, zu der Selbstschreiben und
Durchsehen und Durchstudieren groBer Werke noch nicht ge-
nug ist. Man weiB, wie unendlich in der Musik Horen vom
Lesen verschieden ist: wie sehr Studium des Effekts vom Stu-
dium der Harmonie verschieden ist.
Zwar hatte er in Dresden viel gute, grofie Musik gehort,
es war aber denn doch alles zu sehr in einem Geschmack, in
einem Stil. Dabei lief er Gefahr, sich in die eine Manier so
hineinzuarbeiten, daB sein Genie dariiber litte. Seine Arbei-
134
ten begannen auch bereits ein gewisses steifes, einformiges
Ansehen zu bekommen: Er fing an, Fiille der Harmonie und
Genauigkeit des Rhythmus auf Kosten des Gesanges, des Aus-
drucks zu suchen.
Sein groBer Meister hatte ihm schon einigemal gesagt:
»Wenn ich Ihre Stucke nicht horte, blofd sdhe, ivurd' ich sie
oft fur meine eigne halten.« Darinnen lag es nun eben; das
Ding sah sich oft trefflich an und klang doch ganz anders.
Es geht einem jungen Kunstler, der Harmonie studiert und
nun anfangt, griindlich, fleiBig und korrekt zu arbeiten, wie
es jedem jungen Menschen zu gehn pflegt, der erst anfangt,
Bekanntschaft mit groBen, beruhmten Leuten zu machen. Je-
ner kann nicht voll, nicht gedrungen genug schreiben, um der
Welt all die erlernten Kiinsteleien so recht vor Augen darzu-
legen, damit sie ja sahe, was er alles weiB. Dieser spricht von
den ersten Zusammenkunften mit einem beruhmten Mann,
dem ersten >Gehorsamer Diener<, so er mit ihm gewechselt,
ohn' UnterlaB, weiB sich viel damit, den beruhmten Mann
vom groBen Zeh bis zur kleinen Haarlocke seiner Peril eke zu
kennen, beschreiben zu konnen. 1st jener aber erst so recht
mit dem Innern seiner Kunst vertraut, fiihlt er sich — hat die-
ser jenen groBen Mann erst zu sein em Freunde, fiihlt er sich
in ihm, so kiimmern sich beide wenig um die Welt, ob sie's
sieht oder nicht. Genug, er selbst weiB es, fiihlt es, genieBt es.
Er weiB nun auch, daB viele prahlerische Kiinsteleien nicht
Kunst sind, daB viele groBberiihmte Manner nicht edle Men-
schen sind, und geht oft beiden aus dem Wege.
Der Vater sah jenes ein, wuBte auch, daB an seinem Sohn
nichts von der guten, moralischen und wissenschaftlichen Er-
ziehung, die er ihm gegeben, verlorengegangen, daB er ein
bestimmt guter und aufgeklarter Mensch war, und trug also
kein Bedenken, ihn reisen zu lassen. Er glaubte, Religion, fur
die der junge Mann wahres, warmes Gefiihl hatte, natiirlich
135
gutes, feines Gefiihl, Einsicht und edle Liebe, die er warm
im Herzen trug, wiirden ihn fiir Laster bewahren. Und Tor -
heiten? Fiir deren Vermeidung war der Vater eben nicht
angstlich besorgt, glaubte aber doch, auch hiervor wiirde ihn
sein guter, bestimmter Geschmack groBtenteils sichern.
Von seiner edlen Liebe zu Henrietten wuBte der Vater sehr
wohl und freute sich in seinem Herzen dariiber, hatte aber
noch nie mit dem Sohne davon gesprochen.
Der Vater berechnete genau, was der Sohn zu einer Reise
durcb Deutscbland und Italien bedurfte, urn sie ohne Auf-
wand und besondere Bequemlichkeit, aber doch vollig sicber
fiir Mangel zu macben. Dies bestimmt 9 er ihm zur Reise, da-
bei equipierte er ihn, nicht prahlerisch, aber gut und anstan-
dig.
Sein Segen, den er dem Sohn zur Reise mitgab, war dieser :
»Hier, mein Sohn, hast du so viel Geld, als du notwendig
zu deiner Reise brauchst. Whilst du mit mehrerer Bequemlich-
keit und grojSerem Aufwande reisen, so nimm deine Musik
zu Hulfe. Verdiene dir so viel, als du auf eine verniinftige und
anstandige A.rt verdienen kannst. Empfehlungen geb ich dir
nicht mit, Ich hoffe,dutuirst dich durch deine Auf fiihrung und
Kunst Freunde genug machen. Sei fleifiig in deiner Kunst,
nutze jede Gelegenheit zu deiner Vervollkommnung. Lerne
auch die Welt und die Menschen kennen. Hute dich aber, hiite
dich, Lieber, sie auf Kosten deiner Gesundheit, deines Her-
"zens, deiner kiinftigen Gliickseligkeit kennenzulernen. Denke
stets daran (hier ergriff ihn der Vater zartlich bei der reehten
Hand), denke stets daran, dafl Gott jede deiner Handlungen
sieht, daj3 dein Gliick das Gluck deiner dich herzlich liebenden
Eltern ist, dein Ungliick das ihrige. (Nun ergriff er ihn bei
beiden Handen und zog ihn sanft zu sich.) Denke daran, mein
lieber, guter Sohn, daft hier deine HEN BJETTE auf dich
wartet, daft das gute, liebe Madchen hofft, durch dich einst ein
136
gluckliches Weib, eine gliickliche Mutter zu iverden. Gott ge-
leite dich!«
Hermenfried fiel sprachlos an den Hals seines Vaters ; beide
weinten, daB die hellen Tranen in groBen Tropf en uber ihren
Hals hinrollten.
Ich darf mich auf seine musikalische Reise nicht besonders
einlassen, obgleich ich. sein sehr genaues Tagebuch vor mir
liegen habe. Nur so viel im allgemeinen :
Er suchte jeden merkwiirdigen Tonkunstler genau kennen-
zulernen, bat ihn urn die Mitteilung seiner Werke und seiner
besondern Ideen bei der Arbeit.
Er suchte jede Gelegenheit auf, Musiken und vor alien
Dingen gute und groBe Sanger zu horen, versaumte keine
gute und keine schlechte Musik, gab vorziiglich auf ihre Wir-
kung acht und zog sich davon Erf ahrungssatze ab.
Er besuchte die Bibliotheken, urn alte musikalische Schatze
und zur Aufklarung der Geschichte der Musik dienende Werke
kennenzulernen. Vorher suchte er aber immer besondere Be-
kanntschaft mit dem Bibliothekar, urn nicht die edle Zeit mit
unniitzer Beschauung vieler tausend Biicher hinzuschlendern.
Er bemiihte sich, die Beschaff enheit guter Orgelwerke und
anderer Instrumente genau kennenzulernen, ebenso auch die
Beschaff enheit zur Musik aufgef iihrter Gebaude.
Da jeder Mensch sah, daB nicht Geldschneiderei oder Prah-
lerei sein Reisegeschaft war, daB er ein bescheidner und eif rig
lehrbegieriger junger Kiinstler war, so kamen ihm die besten
Menschen entgegen, um ihm in seinen Untersuchungen be-
hiilflich zu sein.
Der Hof war immer der letzte, warum er sich in einer gro-
Ben Stadt bekummerte. Indessen wurde er von den meisten
Hof en selbst auf gesucht und oft, ohne daB er's drauf anlegte,
sehr ansehnlich beschenkt, so daB der "Wert der auf seiner
ganzen Reise erhaltnen Geschenke die Kosten seiner Reise
137
iibertraf. Er war bei seiner maBigen, bloB Bediirfnis befrie-
digenden Art zu reisen geblieben und konnte daher das Gliick
geniefien, die erhaltenen Geschenke zu guten, menschen-
freundlichen Werken anzuwenden.
Es wurden ihm auch haufig Dienste angeboten. Er sah aber
immer, daB seine auBerliche edle Gestalt oder zu hohe Vor-
stellung von seinen Fahigkeiten oder vornehme Grille den
groBten Anteil daran hatten, und das war ihm genug, solche
Anerbietung gradezu auszuschlagen. Er war uberhaupt
fest entschlossen, sich durch keine besondere Verbindung auf
seinem Wege aufhalten zu lassen, auch nicht eh eine Stelle
anzunehmen, als bis er sich selbst zu einer wichtigen Stelle
f ahig fiihlte.
Auch verschaffte ihm seine Kunst und sein gutes, edles, off -
nes Gesicht, dem sein Charakter so ganz entsprach, die ausge-
breitetste Bekanntschaft mit alien Standen; und er lernte da-
her in den wenigen Jahren seiner Reise die Welt und sich
selbst mehr kennen als tausend andere oft in ihrem ganzen
Leben.
Je weniger ich von seiner Reise als Kiinstler reden darf ,
desto mehr treibt's mich, von ihm als Mensch zu reden.
Er sagte oft, wenn vom Vorteil des Reisens die Rede war,
der groBte Vorteil seiner Reise ware, daB er sich selbst und
seine Heimat schatzen gelernt hatte. Denn er ward fest iiber-
zeugt, daB es keinen Himmelsstrich, keinen Winkel der Erde
gabe, der nicht dem aufmerksamen Beobachter und wahren
zartlichen Freunde der Natur tausendfache Gegenstande der
Untersuchung, des Vergnugens und der Bewunderung dar-
bote. Und welche unzahlige Menge von Merkwiirdigkeiten
und Schonheiten der Natur f and er nicht bei seiner Ruckkehr
in seinem Vaterlande, die er in alien durchreiseten Landern
vergeblich gesucht und vorher in seinem Vaterlande iiber-
sehen hatte. Ein Fehler der meisten jungen Leute, immer
138
nach den entf ernten Landern sich zu sehnen und dariiber ihr
Vaterland mit alien seinen Vorziigen zu vergessen, wohl gar
zu verachten.
Ebenso ward auch Hermenfried im Innersten seiner Seele
fest uberzeugt, daB es iiberall gute, edle Menschen gabe und
iiberall nur selten solche himmlisch edle, gottlich erhabne
Menschenseelen, deren Gemeinschaft und Freundschaft uns
hier schon einen seligen Vorschmack des Himmels und der
ewigen Seligkeit gaben, da wir im nahern Anschauen Gottes
und in dem genauesten, ewig unzertrennlichen Zusammen-
ketten edler, gleichgestimmter Seelen unaussprechlich, un-
begreiflich selig sein werden.
Auch fiihlte er in sich selbst mehr Trieb und Kraft und
Liebe zum Guten, als er bei vielen in der Feme angebeteten
Mannern gefunden hatte. Denn nichts hatte ihm auf seinen
Reisen mehr Krankung, mehr wahre Betriibnis verursacht als
die traurige und leider so haufige Erfahrung, daB oft die
groBten Gelehrten, die groBten Kiinstler, selbst oft die eifrig-
stenTugendlehrer in ihremLeben die elendesten,veraclitlich-
sten Menschen sind. Man stelle sich seine Bestiirzung, seine
Beschamung vor, wenn er mit heiBer Begierde, mit fliegenden
Schritten dem personlichen Anschauen eines Mannes entge-
geneilte, den er als einen groBen Dichter oder tiefsinnigen
Weltweisen oder seltnen Kiinstler schon von seinen ersten
Junglingsjahren an mit tiefer Verehrung, mit innigster Liebe
gedacht, genannt hatte; vv^enn er nun vor ihm stand und
hoffte, auf seinem Gesichte edle, gottliche Ruhe der Seelen,
klareres, freudigeres Anschauen Gottes, reine, feurige Got-
tesliebe, Menschenliebe, Bruderliebe, bescheidene Zufrieden-
heit mit sich selbst, edlen Stolz auf Wiirde der Menschheit zu
sehen, von seinen Lippen zu vernehmen — und dann Tumult,
Aufruhr, Krieg der Leidenschaften, Verwirrung und Zwei-
fel, Gewissenlosigkeit, HaB, Neid, Verfolgung, Habsucht,
139
kriechende, kindische Eitelkeit sah, horte - o wie verachtlich
ihm dann die elenden Menschen ohneraclitet all ihres Wis-
sens, all ihrer Fahigkeit, all ihrer Geschicklichkeit wurden!
Weit verachtlicher als die ungliicklichen, bejammernswiirdi-
gen Seelen, die nie AnlaB fanden, sich aus dem Schlamme zu
erheben, die Fiirstentyrannei und teuflische Politik und
elende Erziehung in Niedrigkeit und Finsternis niedertreten
und fesseln oder die durch falsche, dem Schwachen iiber-
redende Lehre, durch giftige, siiBe Worte ins Verderben ge-
lockt, gestiirzt und nun im Laster betaubt hintraumen, hin-
taumeln. —
Selten, nur selten £and er unter denen in der Ferae als
Weise, als Dichter, als Kiinstler verehrten, geliebten Mannern
solche Menschen, die er auch bei naherer Bekcinntschaft als
Menschen verehren und lieben konnte ; die nicht, wie die mei-
sten Gelehrten und Kiinstler, nur aus Prahlerei oder Gewinn-
sucht forschten und schrieben, sondern denen es eifrigst und
herzlich una die Erforschung und Ausbreitung des wahren
Guten, wahrhaftig Nutzlichen und edel Vergniigenden zu tun
war; die nicht nur Gelehrte und Kiinstler waren, sondern
auch ihre PfLichten als Menschen, Hausvater und Vater lieb-
ten und erfiillten.
Und nur sehr wenige, sehr wenige unter den angebeteten
groBen Mannern hatten das hohe Verdienst, groBer noch als
Menschen zu sein, als sie es als Gelehrte, Dichter und Kiinst-
ler waren. Aber welches Entziicken, welche Seligkeit war ihm
auch der Gedanke an diese wenigen Edlen !
Desto mehr wahrhaftig gute und edle und gliickliche Men-
schen fand er aber unter denen noch unverdorbnen Landleu-
ten, die in einiger Entfernung von groBen Stadten wohnten.
Dieses und seine inbriinstige Liebe fur Schonheit der Natur
verursachte, daB er sich auf seinen Reisen den Fruhling und
Sommer iiber nur ^wenig in groBen Stadten aufhielt ; die meiste
140
Zeit brachte er auf dem Lande zu, welches er dann auch nach
alien Seiten durchwanderte. Dieses Durchwandern nach alien
Seiten, um das Land reclit genau und recht viel gute Men-
schen kennenzulernen, brachte ihn zu dem EntschluB, zu
FuBe zu reisen, wozu ihn eben seine auBerlichen Umstande
nicht zwangen. Er hatte auch vorher jede andre Art zu reisen
versucht, mit Extrapost, mit der gewohnlichen Post, mit
Fuhrleuten, zu Pferde und zu Wasser. Er fand aber, daB al-
les dieses weit mehr den Korper angreife und ermude und die
Seele zum freudigen GenuB des Guten und Schonen unfahi-
ger niache.
Auch war es auf keine jener erwahnten Arten zu reisen
moglich, das Land und die Bewohner so genau kennenzuler-
nen, als es wohl zu FuBe geschehn konnte. So konnte er jedes
fruchtbare Feld, jeden groBen und schonen Wald, jedenBusch,
jedes Tal, jede Anhohe, jeden Berg, jedes Ufer des Stroms,
jede Quelle ganz kennen und genieBen. Der Landmann na-
herte sich weit eher dem freundlichen FuB wanderer, wurde
weit eher vertraut mit ihm: So konnte er bei jedem guten
Landmann, dem er gern tiefer ins Herz sehen wollte, ohne
Umstande ubernachten, ohne Umstande wochenlang den seli-
gen Anblick einer hauslich gliicklichen Familie genieBen,
tagelang den Arbeiten eines vernunftigen und fleiBigen Land -
manns beiwohnen, von ihm Bearbeitung des Feldes lernen;
oder auch ihm durch Mitteilung seiner Bemerkungen und Er-
fahrungen nutzlich ^vsrerden; durch ihn Kenntnis des Bodens,
der Landesfriichte und der Landesverfassung erhalten. Und
was noch uber alles ging: so konnte er, der fur sich sehr ma-
Big, von Feld- und Gartenfriichten, Brot, Milch und Wasser
lebte, um soviel mehr, als ihm die kiinstlichere Art zu reisen
gekostet haben w^iirde, an Ungliickliche, Bediirftige w r ohltun.
Auch hatte er sich vor seiner Reise bemiiht, den mensch-
lichen Korper und die wichtigsten und gemeinsten Krankhei-
141
ten desselben genau kennenzulernen, um auf seinen Reisen
dem leidenden, hulflosen Landmanne beizustehn, zu helfen.
Ich mufi einige die Menschheit interessierende Auftritte
seiner Reise hier erzahlen. Konnte ich sie, edler, himmlischer
Freund, konnte ich. sie dir mit derselben Warme, mit der Leb-
haftigkeit, mit der hinstromenden, riihrenden Sprache des
Herzens nacherzahlen, mit der du sie meinem Herzen tief
eingepragt, wann wir dort unter der hohen, heiligen Eiche
saBen, unter der sich unsere gleichgestimmte, gleichlautende
Seelen zuerst erkannten, umfaBten, innigst umschlangen;
unter deren weit vorragenden, tief hinaus sich beugenden
Asten wir so oft die unaussprechliche Seligkeit himmlischer
Freundschaft, reiner, hoher Seelenliebe genossen: ach, unter
deren schwermutrauschendem Laube ich mich von dir los-
reiBen muBte, von dir, der du mir alles warst, der mein gan-
zes Herz erfullte, noch erfiillt. GroBer, glitiger Gott, hattest
du nicht das hohe Gefiihl fiir Unsterblichkeit in unsre Seele
gelegt, uns nicht die VerheiBung eines ewigen, seligen Le-
bens gegeben: wie wiirden Freunde, die sich so innig lieben,
wie wiirden die sich trennen konnen, ohne unaussprechlich
elend zu sein, ohne unter der Angst ihres Herzens zu erliegen!
Oft saBen wir nach vollbrachtem Geschaft unter der hohen,
heiligen Eiche, oft, sehr oft sprachlos Hand in Hand, Aug in
Auge oder den gierigen Blick auf den sternenflimmernden,
mondhellen Himmel gerichtet. Nicht Worte, ein kiihner, zu-
versichtlicher Druck der Hand, ein hoher, mehr als tausend
Zungen redender Blick, gleicher machtiger Drang zu seelen-
voller Umarmung sagten's uns, daB unsre gleichgestimmten
Seelen Unsterblichkeit, ewige, selige Vereinigung ahndeten,
tief fiihlten! daB sie machtig jenen hohern Gegenden entge-
genstrebten! Und dann schwand die Erde unter unsern Fii-
Ben, und es war, als hatten wir keine Erdensprache. Wie hat-
ten auch alle Sprachen der Welt, nur den kleinsten Teil der
142
seligen Empfindungen ausdriicken konnen, die dann unsere
Blicke belebten! Und wann uns dann die emporsteigende
Sonne aus diesen seligen, innigen Umarmungen weckte, o wie
war uns dann das majestatische, herrliche Aufsteigen der ge-
stern in Nacht versunkenen groBes, machtiges Bild unserer
Wiederauf lebung ! Im Innersten unserer Seelen beteten wir
dann den an, der diese holie, machtige Gefiihle in unsre un-
sterbliche Seele legte. Machtig gestarkt in unserm Vorsatz,
besser zu werden, nach hoherer Vollkommenheit zu streben,
gingen wir dann an unser Geschaft.
Oft aber auch, wenn wir unter der schwermutrauschenden
Eiche saBen, und der Mond kampfte vor uns mit Gewolk, das
ihn umzog, dann trubte oft der Gedanke an menschlich.es
Elend hienieden unsere zur Wehmut gestimmte Seelen. Siehe,
sagt' ich dann, siehe, wie soviel Tausende nach Gliickseligkeit
jagen, und sich alle von ihr entfernen; siehe, wie der edle Un-
gliickliche dort, auf dem rechten Wege zur Gliickseligkeit,
stets neue tausendfache Hindernisse findet, die Bosheit, Neid,
Verfolgung ihm in den Weg stiirzt, — ach, er wird erliegen!
Tranen hemmten dann meine Sprache.
Aber er, weit besser, weit starker als ich, sprach dann mit
trostender Stimme: »Wende weg deinen Blick von jenem ver-
worrenen, unseligen Tummelplatz menschlichen Elends, wo
auch wir oft in unserm eifrigsten Streben, gut zu sein und
Gutes zu wirken, aufgehalten wurden. Siehe hier den gluck-
lichen Landmann, der doch immer noch die weit groBere An-
zahl der Menschen ausmacht und — der weisen Einrichtung
des groBen Schopfers sei's gedankt! — immer der groBte Teil
der Menschen bleiben muB: siehe den, und ehe du einmal
Elend und Verzweiflung bei ihm erblickst, wirst du tausend-
mal Zufriedenheit, wahres Vertrauen auf Gott, Gottesliebe
und Bxuderliebe sehen. Du weiBt, ich kenne den Landmann,
wie ihn wenige kennen; jahrelang lebte ich ganz mit ihm,
145
mit vielen Tausenden unter ihnen; aber es sei dir geschworen :
Wo ich niederdriickendes,~todliches Elend fand, da kam's von
jenen unseligen Mensclien her, die in groBen Stadten wohnen.
Das unvermeidliche Ubel, das oft aus dem Gange der Natur
entsteht, weiB der Landmann mit uns ganz fremder Gelassen-
lieit und Ergebung in den Willen dessen, der ihm seine Felder
und Wiesen befruchtet, zu ertragen.
Einst wanderte ich. in einer bergigten Gegend: Die steilen
Berge waren mit herrlichen hundertjahrigen, tausendjahri-
gen Baumen von sehr verschiedener Art, sehr verscbiedenem
Laube bewachsen. tlber die hohe, weit ausgebreitete Eiche
ragte die schlanke, kiihne Fichte hoch hervor, der Tanne
dunkles Griin wurde triiber dem Auge durcb den blassen
Schein gegeniiberstehender Birken ; Bucben umschlungen
sich, scbwesterlich ineinandergewacbsen, und an ibren bohen
Gipfeln sahe man noch Namenziige, die vor Jahrbunderte
zartlich Liebende in ibre junge Rinde schnitten und sie in-
einanderschlangen, daB sie lange ein Bild ihrer Seelenver-
einigung blieben. Auf den Hohen und in den Talern standen
die frucbtbarsten, gesegnetsten Felder und Wiesen in ibrer
Bliite : Renter und Pf erd konnten sicb. unter die hoben, vollen
Ahren verbergen. An den Anhoben weideten f ette, glanzende
Herden : Auf den Wiesen standen Manner bis an die Brust im
Grase und maheten. Sie waren aber nicht frohlicb, sangen
nicht muntere Gesange; denn es war ein beiBer Tag, eben um
die Mittagsstunde, und am Horizont zogen sicb schwarze,
f urchterliche Wolken zusammen. Icb hatte nocb zwei Stunden
bis nacb einem Dorfe, das tief im Tale lag. Bald wurde der
ganze Himmel bezogen; es wurde am Mittage Nacbt, und
plotzlicb brach der gewaltigste Sturm und Donner mit Blit-
zen und Hagel und RegenguB machtig hervor. Icb war ge-
zwungen, mich unter eine tausendjahrige Eiche auf den Bo-
den zu legen.
144
Zwei Stunden kampf ten und tobten die Elemente, und dann
ward's ruhiger und klar.
Gott, welch ein Anblick! Alle Felder, alle Wiesen wie von
tausend Mahern niedergemaht, alles Gluck, alle Hoffnung
des Landmanns ganzlich zu Boden geschlagen; die Herden
zerstreut, hier ein totes Lamm, dort hundert getotet. — Ich
ware fast vergangen bei dem Anblick. Ich eilte fort, kam an
einen hohlen, sehr steilen Weg, den Reisende sonst mit ge-
hemmten Radern und doch nicht ohne Gef ahr hinabgleiteten.
Und welch ein neuer^ schrecklicher Anblick! Nie sah ich so
etwas fiirchterlich GroBes! Der Weg war verschuttet, als war
er nie gewesen; viel tausend Baume, die am uberhangenden
Rande bis auf die auBerste Hohe des Berges gestanden, waren
samt ihrem Erdreich hinuntergestiirzt ; viele hatten sich in die
Hohlung gepflanzt, standen da tief und fest, als hatten sie
Jahrhunderte schon da gestanden; andre hatten ihre Krone
tief in die Erde gegraben und spreuzten ihre entbloBten Wur-
zeln gen Himmel; noch andre junge zarte Baume lagen zu
Tausenden, vom Laube entbloBt, ubereinander auf dem Bo-
den; andere waren von nachstiirzenden Felsenstiicken tief in
die Erde geschlagen, so daB ihre Krone ihre Wurzeln um-
schlangen.
Stundenlang stand ich wie versteinert vor dem graBlich er-
habenen Orte, bis mich eine f eine, klagende Stimme aus mei-
nem Staunen weckte: Sie konnte nicht w r eit von mir sein; ich
versuchte mich durchzuarbeiten und war nicht zehn Schritte
geklettert, als ich einen lieben, feurigen Jungen von ohnge-
f ahr sieben Jahren auf einem toten jungen Lamme schluch-
zend und weinend liegen sah. Er hatte das kleine Lamm von
der Herde genommen, da der Sturm einbrach, um es nach
Hause zu tragen ; hier hatte ihn aber der Sturm ergriff en und
zwischen die niedergestiirzten Baume geworfen. Der Junge
war bis auf eine geringe Quetschung am Beine unbeschadigt,
145
aber das Lamm war erdriickt. Ich bat ihn, trostete ihn, ver-
sprach ihm zehn andre Lammer, aber er wollt es nicht ver-
lassen. »Nein, nein, es ist mein Lamm, meine Mutter gab's
mir, und meine Mutter ist tot,« Das wiederholt' er unauf-
horlich, das Lamm festhaltend, bis ich ihn samt seinem
Lamme mit Gewalt auf den Riicken nahm und mich so mit
auBerster Muhe und Anstrengung seitwarts durcharbeitete.
Tiefer unten war der Weg weniger verschuttet, aber fast
mannhoch iiberschwommen. Ich muBte warten, bis das Was-
ser sich verzog und die Bauern hinzukamen, die Graben offne-
ten und denSchutt wenigstens fur FuBganger wegraumten. In
fiirchterlicher Totenstille taten sie das. Keiner sprach ein
Wort. Seufzer und Tranen, das war alles. Auch ich hatte nicht
das Herz, sie anzureden. Weinen konnt' ich aber noch nicht.
Ich ging langsam meinen Gang fort und war bald am Dorfe.
Bei dem ersten Bauernhause durchdrang mich ein Anblick
bis ins Innerste meiner Seele. Das Haus war aus- und inwen-
dig bis \iber die halbe Hohe der Tiire und Fenstern mit Erde,
Sand und Steinen verschuttet, und in dieser aufgeworfenen
Erde stand ein alter achtzigjahriger Mann mit seinem acht-
undsiebenzigjahrigen Weibe bis iiber die Knie und arbeiteten
mit schwachen Kraften, den Schutt aus dem Hause zu schau-
feln. Sie hatten ihr Gesicht voneinander weggewandt, um
dem andern nicht sehen zu lassen, wie die Tranen in dicken,
sich jagenden Tropfen auf den Boden rollten. Ich sprang zu,
hinein konnt' ich nicht: rief, schrie ihnen zu; allein von Weh-
klagen schon getaubt und ganz in ihren innern Gram ver-
senkt, horten sie mich nicht, bewarfen mich unbewuBt mit
Erde; und doch konnt' ich nicht fortgehn. Ich schrie wieder:
»Vater, Vater!« Da sah der Alte mich plotzlich mit starren,
gierigen Augen an, seufzte tief aus der Brust, schlug die
Augen wieder nieder und arbeitete heftiger weinend fort.
»Ich will euch Hulf e holen«, rief ich, »will euch helfen, helft
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mich nur hinein.« Da reicht' er mir, ohn' ein Wort zu reden,
die Schaufel, und ich kletterte hinein.
Ich: Seid ihr denn so ganz ohne Hiilfe, Alter?
Der Bauer (mit gebrochener Stimme in einem hohlen
Tone) : Gott hat mir drei Sohne gegeben, aber sie haben sie
mir genommen. (Und nun konnt' er fur heftiges Schluchzen
und Weinen nicht weiter.)
Die Frau: Ja, Herr, die Soldaten, die Soldaten — das ist
unser Ungluck! — was Gott tut, das ist ivohlgeta.nl —
Denke dir den Zustand meines Herzens, wie's mir zer-
springen wollte. Die Tranen stiirzten mir machtig die Wan-
gen herab. Ich konnt' nicht helfen, warf einen Teil meines
Geldes auf den Tisch und stieg hinaus zum Fenster, das nach
dem Garten ging.
Hinter dem Hause warf ich mich unter eine hohe Linde,
die von alien Baumen und Gartengewachsen allein stehenge-
blieben war, und weinte aus. Da dacht' ich wieder an den
Jungen, der beim Eintritte ins Dorf sich von mir losriB und
auf das Haus seines Vaters zulief : Ich sucht' ihn, konnt' ihn
aber nicht wiederfinden.
Ich ging drauf zum Pfarrer des Dorfs, liefi mir genau den
Zustand der verungliickten Einwohner sagen und lief, weil
ich nicht mehr viel Geld bei mir hatte, nach der nachsten
groBen Stadt, wandte da all mein Wissen, all meine Kunst an,
so viel Geld als moglich zu verdienen.
Nach sieben Tagen kam ich wieder in das Dorf; fand alles
herum noch ebenso wiiste; kein sanfter, wohltatiger Wind-
hauch hatte die niedergeschlagenen Ahren erheben konnen.
Doch war's im Dorf e selbst ziemlich auf geraumt und die Gar-
ten schon wieder von neuem bearbeitet. Auch waren die Leute
mir ganz unbegreiflich ruhig.
Ich suchte gleich wieder meinem achtzigjahrigen Greis auf
und fand in seinem Hause alles ordentlich und ruhig. Die
147
Frau saB und sponn, der Alte schnitt Stabe, urn junge, neu-
gep'flanzte Baume, die-ihm der gute, wohltatige Pfarrer des
Dorfs geschenkt, zu stiitzen. Sie erkannten mich nicht, hieBen
mich niedersitzen und erkundigten sich, ob ich nichts Neues
vom Kriege wiiBte. Ich suchte das Gesprach soviel als mog-
lich davon abzuleiten, weil ich wuBte, was ihnen am Herzen
nagte, weil ich sah', wie's ihnen nagte. Aber sie waren immer
wieder da. Kein Wort entfiel ihnen iiber die letzte Verwii-
stung. Endlich fing ich selbst davon an. Der Alte hatte sich
mit niedergesunkenen Armen und niedergesenktem grauen
Kopf e vor mir hingestellt.
Ich: Habt ihr denn auch bei dem letzten Sturme Schaden
gelitten ?
Bauer (die Hande langsam in der auBersten Tiefe haltend
und mit halber Stimme) : All mein Feld ist hin!
Ich: Wovon werdet ihr nun aber den Winter leben? Wovon
wieder saen?
Bauer (mit zum Himmel gerichteten Augen und starker,
zuversichtlicher Stimme) : »Weil du mein Gott und Voter bist,
so wirst mich nicht verlassen!« —
Hermenfried konnte vor Tranen nie weiter erzahlen.
Ich will an einem andern Orte mehrere die Menschheit in-
teressierende Auftritte seiner Reise erzahlen, bis ich einst der
U Welt sein ganzes, hochst interessantes Leben darstellen kann.
' Nach drei Jahren kam er aus dem Lande der wahren, scho-
l;! nen Musik, bereichert mit groBen Schatzen von Kenntnis und
! Erf ahrung, zu seinen Lieben alien zuriick. Ich wag's nicht, die
L ersten feurigen, seligen Umarmungen mit kalten, trocknen
t Worten zu schildern. Und vermocht ich's auch mit aller
Wahrheit und Warme, die die Sprache nur vermag, was
war's dennoch fur den Kalten, der's noch nie gefuhlt, nicht
fiihlen kann? Und was gar fur den, der's gefuhlt, der's ganz
zu fiihlen vermag ?
148
Der erste Taumel der Freude war voriiber, und nun sprach
ibm der Vater so: (Alle waren beisammen, auch Henriette
mit ihren Eltern und Geschwistern.)
»Du hast bis heute alle meine Wiinsche erfiillt, mein lie -
ber, lieber Sohn. Meine Korrespondenten haben mir aus jedem
Orte deines Aufenthalts die umstandlichste Nachricht von
deinem Leben mitgeteilt, und nie haV ich Ursache gehabt,
andre Tranen um dich zu weinen als Tranen der Freude.
Bleibe so die Freude unsers Alters und mache nun auch Ge-
brauch von deiner Wissenschaft. Das einzige deiner Reise,
womit ich nicht ganz vollkommen zufrieden sein kann, ist die
gar zu stolze Art, mit der du zuweilen ein dir angebotnes Amt
ausgeschlagen. Oft hab 9 ich deine Bewegungsgriinde, warum
du's ausschlugst, gebilligt; aber die Art, mit der du's zuweilen
tatst, zeigte, dafi du es schon vorher, eh es dir angetragen
wurde, fur zu unwichtig fur dich hieltst. Hiite dich ja, mein
Bester, fur den zu hohen Geist, der den besten und groBten
Kiinstlern den GenuB der Friichte ihres FleiBes oft raubt!
Ich les' es genugsam in deinen Augen, wenn ich's auch
nicht von dir horte, daB du samt deinem lieben Madchen
ebenso sehnlich nach hauslicher Gliickseligkeit schmachtest,
als ich und deine Mutter in euren Jahren darnach schmachte-
ten. Du hast recht, mein Sohn, hast den wahren Nutzen aus
der genauern Kenntnis der Welt gezogen: Hausliche Gliick-
seligkeit ist das einzige wahre, dauerhafte Gut des mensch-
lichen Lebens auf dieser Erde. Sie allein gibt die Ruhe der
Seelen, die zu gegenwartigem frohlichem GenuB des Lebens
und zu sicherer Aussicht in die Zukunft so hochst notwendig
ist. Man muB aber die Welt erst kennen, muB in gewissem
Verstande daran gesattigt sein, um nicht durch falschen
Schimmer aus der Feme von seiner gliicklichen Ruhe aufge-
sprengt zu werden. Ich wiinsche dir Gliick zu deiner Welt-
kenntnis, du hast sie ohne deinen Schaden erhalten. GenieBt
149
nun beide die Seligkeit des gliicklichen hauslichen Lebens
ganz.
Wir, eure Vater, sind aber beide nicht imstande, ohne un-
sern eignen Nachteil und dem Nachteile eurer Geschwister
euch in dem Stand zu setzen, daB ihr ohne eigene Arbeit be-
quem und angenehm leben konntet; ich hoffe auch nicht,
mein lieber Sohn, dafi du den unseligen Hang zu einem mii-
Bigen, untatigen Leben hast: Hor also einen Antrag, den ich
dir zu machen habe, ohne Vorurteil an :
Der pohlnische Fiirst S ***, dem du in Rom jedes Anerbie-
ten, mit ihm zu reisen, ihm eine Kapelle zu errichten, bei ihm
Dienste zu nehmen, so stolz ausschlugst, weil du ihn fur einen
unedeln Menschen hieltst, der hat sich bei seiner Zuriick-
kunft hier an mich gewandt und mich gebeten, dich dahin zu
bereden, daB du ihm eine Kapelle errichtest und dabei Musik-
direktor wiirdest. Er bietet dir jahrlich vierhundert Dukaten,
den Winter will er stets hier in Dresden zubringen, und es soil
von dir abhangen, jedesmal mit ihm herzureisen. Den Som-
mer iiber ist er auf seinen Giitern nahe bei Warschau. Da
soil deine Art zu leben ganz von deinem Willen abhangen.
Willst du mit ihm Hofleben fuhren, so sollst du einer der An-
gesehensten an seinem Hofe sein, Tafel und alle Lustbar-
keiten mit ihm haben; willst du aber ganz entfernt vom Hofe,
in einem kleinen Landhause hauslich leben, so verlangt er
weiter nichts, als daB du so viel ail Hofe kamst, wie die Or d-
nung der Kapelle und die Auffiihrung groBer Musiken er-
f ordert. LaB mich noch eins hinzusetzen, Lieber!
Tragst du noch deshalb Bedenken, weil du ihn fur einen
unedeln Menschen haltst, so erwage, daB es dem Kiinstler,
dem seine Kunst Gewalt iiber das Herz des Menschen gibt,
eine hochst erwiinschte Lage sein muB, bei einem machtigen,
reichenManne, der Antrieb zu gutenTaten bedarf, dies Werk-
zeug zu sein, das ihn zum Guten, Edlen lenkt. Du hast sein
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Herz gewoimeii, gewinne nun auch von diesem das Gliick vie-
ler Hunderte deiner Nebenmenschen.«
Hermenfried hatte keine Einwendung. Er nalim das Amt
an, verband sich. mit seiner lieben edeln Henriette auf ewig
und waMte das ilim angetragene ruhige, vom Hof e entfernte
landlich hausliche Leben. Vier liebe Kinder, mit die ihm Hen-
riette in den ersten aclit Jahren ihrer Ehe beschenkte — alle
Kinder der Liebe — , niachten das MaB ihrer Freuden iiber-
schwenglieb voll.
Hermenfried 'war eben auf seinem Landhause, einige Mei-
len von der Stadt, da der Fiirst mit unserm Gulden in War-
schau ankam. Der Fiirst muBte sicb einige Wochen in War-
schau aufhalten und trug's gleich bei seiner Ankunft einigen
seiner Hofleute auf, unsern Heinrich zu Hermenfried hin-
auszuf uhren. Das geschah den nacbsten Tag.
Die Szene in Hermenfrieds Wohnung ist wichtig genug,
einen neuen Teil damit anzuf angen.
Ende des ersten Teils.
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